Die braune Rose
ab. »Los, Kinder, es sind schon zehn Minuten über die Zeit! Waschen, anziehen, Kaffee trinken. Los! Helga hilft heute in der Küche, Barbara hat Gartendienst, Ida wischt die Treppe … und du, Erika, du kommst schon wieder zu spät in die Fabrik. Pünktlichkeit ist –«
»– ein Eckpfeiler der Ordnung!« brüllten die sieben Mädchen im Chor. Dann rannten sie hinaus zum Waschraum.
Erna Selpach blieb allein im Schlafsaal zurück. Sie drehte sich wieder zu dem leeren Bett und sah es lange an.
Harriet-Rose Achenberg, dachte sie.
Kaffeebraun, mit schwarzen, strähnigen Haaren. Aber mit einer schönen, geraden Nase und kaum aufgeworfenen, blutroten Lippen. Schwarze große Augen und ein Gang wie eine Gazelle. Und immer ein Lächeln. Nie aufsässig. Immer hilfsbereit. Eine gute Schneiderin, deren Fleiß die Lehrerin lobte. Mit Sinn für Schönheit und begabt, eigene Modelle zu entwerfen. Seit ihrem achten Monat im Heim. Erst im Kleinkinder-Waisenhaus, dann in der Heimschule, mit vierzehn Jahren hier im ›Eberhard-Teichmann-Haus‹. Ein Weg, den Hunderte von Mädchen gegangen waren … und plötzlich brach er ab. Unvorhergesehen, unverständlich, unbegreiflich, ohne Motive, ohne Anlaß. Sie ging einfach weg.
Erna Selpach wandte sich ab und verließ den Schlafsaal. In dem großen Haus war Unruhe und Lärmen. Der neue Tag begann. Am Tisch, vor dem Morgenkaffee, würde man ein Gebet sprechen. »Herr, du bist meine Zuversicht und Stärke –« Und der Blick würde über die gesenkten Köpfe gleiten, über neunundvierzig Schicksale, die nun in einer Hand lagen, in ihrer, Erna Selpachs Hand. Die meisten hatten keine Eltern mehr, ein Teil kannte sie gar nicht, bei einigen lebte noch die Mutter oder der Vater, aber sie kamen selten oder nie. Sie schickten nur das monatliche Geld, den einzigen Beweis ihrer Elternschaft.
Nur Harriet-Rose war anders gewesen. Ihr Vater und ihre Mutter lebten noch. Aber auch sie kannte keinen von ihnen. Auch sie wurde nie besucht. Sie lebte … aber sie lebte abseits. Je älter sie wurde, um so mehr begriff sie ihr Schicksal. Aber sie sprach nie darüber, sie fragte nie nach ihrer Mutter, nie nach dem Vater, nie nach der Vergangenheit, die einmal vor fünfzehneinhalb Jahren ein braunes, zappelndes Bündel Mensch bei der Aufnahme abgab und zur Adoption zur Verfügung stellte.
Erna Selpach schloß hinter sich die Tür des Büros ab und setzte sich hinter den Schreibtisch. Die elektrische Uhr über der Tür summte leise. Ein Fehler, irgendwo im Inneren der Uhr. Der Elektriker war schon bestellt.
Halb sieben. Gleich schellte die Klingel zum Kaffeetrinken. Wenn Rose beim Morgengrauen geflohen war, konnte sie noch nicht weit sein. Ob sie in die Schweiz gefahren war? Oder hinauf in den Norden?
Sie griff zum Telefon und drehte die Nummer des Polizeipräsidiums. Warum hat sie das nur getan, dachte sie, während sie das Summen in der Leitung hörte. Von vielen hätte ich es erwartet, aber nicht von ihr. Hier war sie zu Hause, hier war sie ein Mensch wie alle anderen … Was trieb sie hinaus in eine Welt, die sie nicht kannte?
Eine Stimme klang im Hörer auf. Erna Selpach straffte sich. »Ja«, sagte sie. »Hier ist das ›Eberhard-Teichmann-Haus‹ des Waisenhauses. Heute morgen ist eines unserer Mädchen entwichen. Es wurde soeben erst entdeckt. Ich gebe ihre Beschreibung durch:
Name: Harriet-Rose Achenberg
Alter: 16 Jahre
Größe: 1,65 m, schlank
Kleidung: Vermutlich ein rotes Kleid, darüber ein hellbeiger Trenchcoat, halblang. Perlonstrümpfe, braune Sportschuhe.«
»Besondere Kennzeichen?« fragte der Beamte. »Narben, Muttermal oder so was?«
»Ja.« Erna Selpach atmete tief. »Besondere Kennzeichen: Braune Haut, kaffeebraun, strähnige, schwarze Locken.«
»Ach! Ein Negerkind«, sagte der Beamte. Seine Stimme klang wesentlich uninteressierter als zuvor. »Kam wohl das Urwaldblut durch, und weg war sie?«
»Die Mutter ist eine Deutsche, eine Weiße.«
»Hab ich auch nicht anders erwartet. Die haben das Vergnügen … und wir die Sorgen. Na, wir werden uns mal umsehen, wo wir das Negerfrüchtchen aufgabeln. Bestimmt sitzt sie heute abend in irgendeiner Soldatenkaschemme.«
Erna Selpach ließ den Hörer zurückfallen und schnitt der Stimme damit die weiteren Worte ab. Es war ihr, als habe der Hörer in ihren Fingern gebrannt.
*
Die schrille Glocke des Telefons weckte Marianne Koeberle aus dem Schlaf.
Bevor sie den Hörer abnahm, sah sie auf den Reisewecker, der neben dem Telefon auf
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