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Die braune Rose

Die braune Rose

Titel: Die braune Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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dem Nachttisch stand.
    Sieben Uhr.
    Sie richtete sich auf und zog fröstelnd die Daunendecke bis zur Brust. Es war ihr nichts Neues, daß Herr Schumacher von den Möbelwerken Schumacher u. Co. sie spät abends oder gar nachts noch anrief und sagte: »Es tut mir leid, Koeberle, aber Sie müssen noch mal kommen. Es hat sich so ergeben, ganz plötzlich. Wir müssen mit dem Nachtzug nach München und von dort mit der ersten Maschine der PAA nach Beirut. Ein dicker Posten Libanon-Zedern ist uns angeboten worden. Ein Ringeltäubchen. Wir müssen sie der Konkurrenz wegschnappen.«
    So oder ähnlich ging es manchmal. Aber morgens um sieben war eine Zeit, die Arnold Schumacher fast heilig war. Da schlief er. Immer und ohne Ausnahme. Im Zug, im Wagen, im Flugzeug. Er war ein Mann von eisernen Grundsätzen, und einer von diesen war: »Der Morgenschlaf ist der beste und gesündeste.«
    Marianne Koeberle nahm den Hörer ab.
    »23 19 67«, sagte sie verschlafen. Wenn es wirklich der Chef ist, dachte sie gleichzeitig, muß etwas Ungeheures geschehen sein. Um sieben Uhr anzurufen.
    Eine Frauenstimme klang aus der Hörmuschel. Das war das erste, was Marianne wahrnahm. Dann wurde sie vollends munter und preßte den Hörer ans Ohr.
    »Ja«, sagte sie. »Marianne Koeberle selbst. Wer spricht dort? Konstanz? Das … das Heim …« Eine Welle eiskalten Erschreckens durchflutete sie. Um sieben Uhr morgens … das Heim … Rose … »Ist … ist etwas, Frau Selpach? Bitte … was ist mit Rose?« Mit beiden Händen hielt sie den Hörer fest und stützte sich gegen den Kopfteil des Bettes. »Nein, ich habe keinen Brief bekommen. Woher denn auch? Nein, gar keine Nachricht. Das war doch nicht möglich … Rose weiß doch gar nicht, daß ich in Heidelberg wohne … daß ich ihre Mutter bin. Das weiß doch keiner … außer Ihnen. Was – was ist denn?«
    Eine Weile starrte sie regungslos auf den Reisewecker, als die Stimme Erna Selpachs verklungen war. Plötzlich waren sechzehn Jahre wie eine Nebelwand verflogen. Das Gestern wurde zur Gegenwart, die Vergangenheit zum erlebten Augenblick. Die Jahre, die alles verwischen sollten, waren vorbeigegangen. Aber sie hatten die Probleme nur gespeichert … nun platzte die Scheune der Zeit, die kunstvoll aufgerichteten, verbergenden Wände stürzten ein. Es gab auf einmal kein Verstecken mehr, ein sinnloses Glauben, daß sich alles einmal wie von selbst auflösen würde.
    »Sie ist fort«, sagte Marianne leise. »Mein Gott – sie kennt doch niemanden. Sie kann doch nicht einfach in die Welt hinaus … mit zwei Kleidern, einem Mantel, einem bißchen Taschengeld.«
    »Ich nehme an, daß Rose ihre Mutter suchen will«, sagte Erna Selpach.
    »Mich?«
    »Irgendwie muß sie erfahren haben, daß ihre Mutter lebt. Wir wissen alle noch nicht, wie das möglich war. Aber nur so ist ihre plötzliche Handlung zu erklären.«
    »Aber – mein Gott – wo will sie mich denn suchen? Und wie?«
    »Das alles können wir uns nicht erklären. Vielleicht wäre es besser, wenn Sie nach Konstanz kommen könnten.«
    »Natürlich komme ich. Natürlich«, sagte Marianne Koeberle leise. Sie legte den Hörer zurück und schloß die Augen.
    Vor siebzehn Jahren … In der Waschküche des Hauses hatten die Amerikaner ihre Küche eingerichtet. Jeden Morgen, Mittag und Abend zog eine lange Schlange grüner Uniformen durch den Vorgarten hinein, an der Treppe zur Waschküche vorbei und durch die Holztür am hinteren Garten wieder hinaus. Klappern von Kochgeschirren und Schüsseln, Lachen, kehlige Laute, der süßliche Rauch mit Feigen fermentierter Zigaretten, der Geruch gebratener Gänse und Steaks, eine riesige Pfanne mit bruzzelnden Eiern, Kannen voll Milch und Fäßchen voller Fett und Butter. Und Shirer war dabei, der lange, immer lächelnde Sergeant Harry Bob Shirer, den die Kameraden ›Old Knocker‹ nannten. Ein Paket von Muskeln mit der Gutmütigkeit eines beschenkten Kindes. Am Abend saß er auf der Waschküchentreppe und sang. Mit einer tiefen Stimme. Schwermütige Lieder aus Alabama. Gebete, in denen er Gott mit Lord anredete. Und sie stand daneben, schmal, blond, hungrig, fasziniert und hörte seinen Liedern zu. Und bekam Schokolade und Eier und ein eingefrorenes Huhn und weißes Brot und Stangen voll gepreßter Früchte und kleine Marmeladenbüchsen und täglich vier Löffel Schmalz … Und dann dieser Abend an den Himbeerhecken, dieser schreckliche Abend, dessen Schmerzen sie nicht mehr spürte, aber dessen Atem sie noch

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