Die braune Rose
Eine lebende Mauer von Staunen, Nachdenklichkeit und Neugier.
*
Die Abteilung ›Heranwachsende und berufstätige Mädchen‹ des Waisenhauses lag etwas außerhalb Konstanz' zur Schweizer Grenze und Rheinfelden hin in einem Garten. Es war früher einmal eine Privatvilla gewesen. Ein Fellhändler hatte hier seinen Lebensabend verlebt und Gebäude mit Grundstück dem Waisenhaus vererbt aus Dankbarkeit, daß aus ihm, dem ehemaligen Waisenkind, ein guter und erfolgreicher Mensch geworden war. Jedes Jahr wurde seiner in einer schlichten Feierstunde gedacht. Sein Ölbild hing in der großen Diele. Ein ernst blickender Greis mit einem schmalen Kopf. Er wurde als Vorbild hingestellt, und sein Name wurde zur Verpflichtung. ›Eberhard-Teichmann-Haus‹ hieß das Wohn- und Betreuungsheim, das neunundvierzig junge Mädchen für das rauhe Leben vorbereitete.
Erna Selpach war die Heimmutter. Eine gütige, alte Dame, ausgebildete Psychologin, Witwe des Ersten Weltkrieges mit knapp 18 Jahren und seitdem im Dienste der Nächstenliebe. Der Schock, kurz vor dem Ende des Krieges die Todesnachricht des einzigen Mannes in ihrem Leben erhalten zu haben, war so gewaltig, ihr ganzes Wesen erschütternd, daß sie ihre Aufgabe darin sah, verwaisten Mädchen einen sicheren Weg ins Leben zu ebnen.
Erna Selpach wohnte im Parterre der Villa. Von dort regierte sie die neunundvierzig Mädchen, vier Heimschwestern, drei Küchenmädchen, zwei Pädagoginnen und eine Schneidermeisterin, die im heimeigenen Nähsaal unterrichtete. Man nannte sie überall nur ›Mutter Erna‹, und sie war glücklich darüber, Mutter von neunundvierzig großen Kindern zu sein, nachdem der Krieg ihr die Möglichkeit der eigenen Mutterschaft vernichtet hatte.
Es dauerte lange, bis auf das Klopfen der dicken Erika sich hinter der Schlafzimmertür von Erna Selpach etwas rührte. Doch stand wenig später auch sie stumm vor dem leeren Bett und dem offenen Spind mit dem einsamen Perlmuttknopf.
Die Augen der anderen Mädchen sahen sie fragend an. Was nun, sagten die Blicke. Was wirst du tun? Da ist eine von uns weg … und eigentlich hat sie nur das getan, was wir schon längst in der Tiefe unserer Herzen uns wünschten: Freiheit! Leben! Liebe! Nicht die sterile Freiheit des Heimes, nicht das genau vorgezeichnete Leben nach der Uhr, nicht die gütige Liebe einer Ersatzmutter. Nein. Freiheit in der tosenden, lockenden weiten Welt … Leben, das man ergreifen und kneten und formen kann, wie man es will … Liebe in den Armen eines Mannes, Liebe, von der man träumt, wenn man sich nachts ruhelos in den Kissen wälzt und die eigenen heißen Hände über den Körper streicheln. Das alles ist in uns … und nun hat es eine gewagt, den Glaskasten aufzustoßen. Was nun?
Erna Selpach blickte sich im Kreise um. Sie sah die fragenden Augen, das Glitzern der Auflehnung und sie nickte mehrmals und bückte sich, schob das zusammengefaltete Papier zwischen die Spindtür und klemmte sie zu.
»Morgen kommt ein neues Schloß dran«, sagte sie. »Das hättet ihr schon längst sagen sollen. Ich kann mich doch nicht um alles kümmern. Ihr seid doch große Mädchen.«
»Der Mohrenkopp ist weg«, sagte die dicke Erika.
»Wie heißt eure Kameradin?«
»Harriet-Rose.« Erika wölbte unwillig die Unterlippe vor. »Durchs Fenster ist sie weg.«
»Das sehe ich. Vielleicht ist sie weg, weil ihr sie immer ›den Mohrenkopp‹ genannt habt.«
»Was kann ich dafür, daß sie braun ist.«
»Was kann sie dafür?«
Die Mädchen schwiegen. Nur Barbara fragte leise:
»Was werden Sie jetzt tun, Mutter Erna?«
»Wir werden sie suchen lassen.«
»Und dann?«
»Dann wird sie zurückkommen ins Heim.«
»Zu uns?«
»Natürlich. Aber vorher wird sie bestraft werden. Warum fragt ihr so? Wollt ihr auch hinaus in die sogenannte Freiheit? Ihr werdet eines Tages einen guten Mann heiraten und selbst Mütter werden.«
»Woher denn?« Helga, das Mädchen mit den vielen Lockenwicklern, lachte laut. »Wie soll denn hier ein Mann hereinkommen?«
Erna Selpach drehte sich langsam herum. Ihre gütigen, nie beleidigenden, nie zornigen Augen sahen Erika fragend an.
»Wie alt seid ihr?« fragte sie.
»Sechzehn«, sagte die dicke Erika.
»Jawohl. Sechzehn. Kinder seid ihr noch, wenn eure Körper auch beweisen wollen, daß ihr schon Frauen seid. Aber ihr seid noch Kinder. Das, was ihr Leben nennt, kommt von ganz allein und früh genug zu euch.« Erna Selpach sah noch einmal auf das leere Bett und wandte sich dann
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