Die Braut des Shawnee-Kriegers
nächsten paar Stunden.
Langsam stand sie auf und streckte ihren müden Rücken. Wie lange war es her, dass sie eine richtige Mahlzeit zu sich genommen oder eine ganze Nacht geschlafen hatte? Aber was bedeutete schon Essen und Schlaf, wenn drei Kinder und sieben Erwachsene in den vergangenen vierzehn Tagen an Masern gestorben waren und noch ein Dutzend anderer mit der Krankheit daniederlagen!
Nur die strikte Quarantäne hatte bewirkt, dass die Epidemie sich nicht durch das ganze Dorf ausbreiten konnte. Vielleicht war das Schlimmste jetzt überstanden. Seit sieben Tagen hatte es keinen neuen Krankheitsfall mehr gegeben, doch diese ermutigende Aussicht half den Toten nicht – weder der Mutter und dem Kind, die die Masern aus dem französischen Camp zu den Shawnee eingeschleppt hatten, noch Hunts-at-Night. Und sie linderte nicht White Moons tiefen Schmerz. Sie hatte wie ein waidwundes Tier aufgeschrien, sich die Kleider vom Leib gerissen und Gesicht und Körper mit Asche beschmiert. In dem Trauerjahr, das vor ihr lag, würde White Moon sich weder waschen noch die Haare kämmen. Sie würde kein einziges Mal lachen.
Clarissa bückte sich noch einmal, schöpfte mit der Hand ein wenig Wasser und nahm vorsichtig einen Schluck. Die Schwangerschaft, die bei Wolf Hearts Abreise noch eine Vermutung war, hatte sich inzwischen bestätigt und war zur Gewissheit geworden. Ihr von Übelkeit gebeutelter Magen schien nichts bei sich behalten zu können. Selbst von ein paar Tropfen Wasser wurde ihr schon schlecht. In jener entlegenen anderen Welt hätte sie vermutlich der Ruhe gepflegt und sich mit ihrem "delikaten Zustand" entschuldigt. Doch nicht hier. Bei so vielen kranken und pflegebedürftigen Menschen war keine Zeit für derlei Empfindlichkeiten.
Sie blieb einen Augenblick stehen und schaute hinab in das abgehärmte Gesicht, das das Wasser widerspiegelte. Welches Kind würde heute sterben? Welches hübsche junge Mädchen oder welcher Krieger? Welche Mutter? In weniger als einem Mond hatte sie den Tod so oft gesehen, dass es für ein ganzes Leben reichte. Nicht noch mehr! flehte sie stumm. Bitte, lieber Gott, mach ein Ende!
Sie konnte sich nicht mehr genau erinnern, wann sie begonnen hatte, an Baltimore zu denken. Vielleicht war es in einem der Träume gewesen, die die kurzen Stunden des Schlafs getrübt hatten. Vielleicht war es in jener Nacht, als das kleine Mädchen der Witwe starb und sie sich bei der Frage ertappt hatte, wie es wäre, wenn sie hilflos dabeistehen und zusehen müsste, wie ihr eigenes Kind aus dem Leben schied. Vielleicht geschah es auch bei White Moons schmerzlichem Verlust, als sie die hemmungslose Trauer sah und die ganze Zeit daran denken musste, dass auch ihr eigener Mann in ständiger Gefahr schwebte.
Was immer der Grund gewesen sein mochte, als die Welt um sie herum nicht mehr zu ertragen war, hatte Clarissa sich in eine rosarote Fantasiewelt zurückgezogen, die ihr immer vertrauter wurde. Sie sah das behagliche Backsteinhaus, erbaut auf dem Grundstück, das sie von ihrer Mitgift gekauft hatte. Den polierten Tisch mit der Decke aus feinstem schneeweißen Leinen und darauf ein Frühstück aus geräuchertem Schinken, Eiern, Porridge und knusprigen Brötchen mit Butter und Erdbeermarmelade. Die Kinder, die sich um die Eltern scharten – kleine Mädchen, die stolz ihre Mustertücher mit der Stickerei vorzeigten, und ernsthafte kleine Jungen in Kniehosen, zurechtgemacht für die Schule. Und sie sah sich selbst, wie sie beim Frühstück die Aufsicht führte, in einem einfachen blauen Musselinkleid, das Haar adrett aufgesteckt. Ihr großer, gut aussehender Ehemann –, Seth Johnson – distinguiert gekleidet für einen Arbeitstag in der Stadt. Er schaute sie über den Tisch hinweg an, und es widerstrebte ihm sichtlich, diesen Hafen der Liebe zu verlassen, auch wenn es nur für ein paar Stunden war. Sie waren alle zusammen – in Sicherheit.
Es war ein wundervoller Traum, der dadurch noch verlockender wurde, dass er unter Umständen bald wahr würde.
"Dancing Fox!" Die atemlose Stimme eines kleinen Jungen riss sie aus ihrem Tagtraum. Hatte schon wieder jemand mit Fieber sein Lager aufsuchen müssen? Schickte sich eine weitere arme Seele an, diese Welt zu verlassen? Clarissa wandte sich um und wappnete sich gegen neuerliche schlechte Nachrichten.
Der Junge, einer von einer Hand voll Kindern, die sich mit Masern angesteckt und überlebt hatten, lächelte ihr zu. Er atmete schwer, weil er so schnell
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