Die brennende Gasse
Ereignisse des Tages nachdachte, vor allem über ihr letztes Gespräch. Und trotz seines Unglücks machte er sich mit einer gewissen Genugtuung klar, daß seine Rede zum erstenmal seit vielen Tagen an jemand anderen als ihn selbst gerichtet gewesen war; zuerst die Priester, dann die Studenten, schließlich sein einstiger Lehrer. Jetzt stellte er fest, daß etwas, was de Chauliac gesagt hatte, ihm im Sinn geblieben war wie eine Rindersehne zwischen zwei Zähnen. Sosehr er auch stocherte und bohrte, es wollte nicht weichen. Etwas über kleine Tiere in der Luft? Das nagte an ihm, und er wußte, er würde es sich zu näherer Untersuchung vorknöpfen müssen.
Denn trotz seiner fatalen Situation war er wieder einmal neugierig.
KAPITEL 10
C amp Meir, gab Janie in das Suchprogramm ein. Sie war gespannt, ob die Suche erfolgreich dort hinführte, wo es Antworten gab.
Als erstes erschien eine Online-Werbebroschüre für die Familien potentieller Besucher. Sie las alle Seiten sorgfältig durch, klickte alle Querverweise an und ging zurück, wenn es notwendig war. Es gab schöne Bilder von einer idyllischen Lage und Fotos vom Inneren der Hütten, deren Sauberkeit und Ordnung gewiß übertrieben waren; man sah keine Spinnweben, keine Insekten und keine nassen Handtücher auf ungemachten Stockbetten. Den Eltern würden diese tadellosen Räume gefallen, aber ihre Kinder würden es besser wissen. Es gab detaillierte Speisekarten der im Lager servierten Mahlzeiten, gefolgt von strahlenden Kommentaren der Leiter und Erzieher. Gesund aussehende Berater in einheitlich israelisch blauen T-Shirts und Khaki-Shorts lächelten mit verschränkten Armen auf einem Gruppenfoto. Und es gab Bilder von vergnügten, gesunden Jungen mit sauberen Gesichtern und goldener Sonnenbräune ohne ein einziges zerrissenes Kleidungsstück. Lauter glückliche Bewohner eines Ferienparadieses.
Auf der zweiten Internet-Seite stand Camp Meir weit oben auf einer alphabetischen Liste von Sommerlagern, in denen Hebräisch unterrichtet wurde, und es gab einen Verweis auf die Broschüre, die sie gerade betrachtet hatte. Die dritte Seite präsentierte eine Aufzählung der Sommerlager im Staate New York, also blätterte sie weiter.
Die letzte Adresse war weit interessanter – es war die persönliche Homepage eines vierzehn Jahre alten Jungen, der unter anderem auch das Camp Meir besucht hatte. Er wollte mit anderen ehemaligen Kumpels korrespondieren. Auf der Homepage befand sich ein Foto des Jungen, wie er aus seinem Rollstuhl lächelte.
Janie versah sie mit einer Bookmark, druckte sie aus und steckte sie in ihre Handtasche.
Mrs. Prives saß noch immer am Bett ihres Sohnes und trug die gleichen, zerknittert aussehenden Sachen, die Janie bei jedem Besuch an ihr bemerkte. Sie fragte sich, ob die arme Frau das Zimmer nur verließ, um ins Bad zu gehen, oder ob sie jemanden hatte – Freunde, Familie, Nachbarn –, der ihr von zu Hause frische Kleidung brachte. Wenn nicht, entschied Janie, würde sie sich selbst erbieten, ihr etwas zum Anziehen zu beschaffen.
Sie wollte Mrs. Prives gerade begrüßen und ihr Angebot aussprechen, als die Frau sich umdrehte – Janie war überrascht von der dramatischen Veränderung ihres Gesichtsausdrucks. » Sein Zustand hat sich gebessert «, sprudelte die Mutter heraus. » Er wacht hin und wieder auf. « Ihr Lächeln war bewegend hoffnungsvoll.
Janie wartete ein paar Sekunden, bevor sie etwas sagte. Eine Veränderung des Bewußtseins war zwar ein positives Zeichen, hatte aber bei einer Rückgratverletzung nicht unbedingt viel zu bedeuten. Doch sie behielt diese traurige Feststellung für sich und bemühte sich, erfreut auszusehen. » Das ist wunderbar «, sagte sie leise. Sie ging wieder zur Tür und schaute hinaus auf den Gang – niemand war zu sehen, also schloß sie die Tür. Dann kehrte sie an Abrahams Bett zurück und bat die Mutter mit einem fragenden Blick um Erlaubnis. Mrs. Prives nickte eifrig.
Janie untersuchte den Jungen rasch im Hinblick darauf, ob sich sein Zustand wirklich gebessert hatte. Doch der war im wesentlichen unverändert, soweit sie bei dieser oberflächlichen Bestandsaufnahme feststellen konnte. Dann kratzte sie ein paar Hautzellen von einem seiner Arme und ließ sie in eine Plastiktüte fallen, die sie sorgfältig verschloß. Sie sah sich die computerisierte Akte an, die am Fußende des Bettes hing, und empfand schmerzhafte Frustration; ihr Identitätschip gehörte nicht zu denen, die Zugang dazu
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