Die Brillenmacherin
Fackelschein glühte aus den Fenstern des Herrenturms. Nur vor dem breiten Fachwerkhaus, das dem Stall gegenüberlag, trotzten zwei Wachen dem Regen. Wenn sie genau überlegte, hatten immer Bewaffnete dort gestanden, seitdem sie die Burg betreten hatte. Was bewachten sie? Im unteren Stockwerk schimmerte Lichtschein aus schmalen Luken. Das obere Stockwerk ragte vor, als sei ein größeres Haus auf ein kleineres aufgepflanzt worden. Breite |29| Fensterbögen unterbrachen das Mauerwerk. Es mußte eine Halle sein, für Feste vielleicht. Dort, im zweiten Stockwerk, war es dunkel. Hatte der Herr Ritter Schätze in seiner Festhalle aufgehäuft? Schwer vorstellbar.
Und dann das Tor. Catherine sann nach. Hatte sie je das Tor des Nottingham Castle verschlossen gesehen? Nein, die Festung stand immer offen. Dabei übertraf sie die Größe der Burg Sir Latimers um einiges.
Nachdenklich kehrte sie in das Turmzimmer zurück. »Elias, sag, warum ist das Burgtor verschlossen?«
»Ich weiß es nicht.«
»In Nottingham steht es immer offen.«
»Die Franzosen stellen in Sluys eine Armee auf. Sie wollen in England einmarschieren. Sicher ist Sir Latimer deshalb vorsichtig.«
»Davon weiß man in Nottingham auch. Wir würden es doch hören, wenn sie an der Küste gelandet sind. Warum müssen jetzt schon in den Midlands, die sie zuletzt erreichen, die Tore verriegelt werden?«
»Ich weiß es nicht, Catherine.«
»Und die Bewaffneten vor der Halle, wozu stehen sie da? Was ist in dem Haus, das nicht gestohlen werden soll?«
»Im Erdgeschoß befindet sich die Kanzlei. Der Herr Ritter hat sie unter besonderen Schutz gestellt, und daran ist nichts Außergewöhnliches. Sieh her!« Er hob die Brillenfassung in die Höhe. »Ich bin fertig. Morgen können wir nach Hause aufbrechen.«
Catherine strahlte. »Das ist wunderbar! Vielleicht schaffen wir es doch noch bis Ägidien. Erhalten wir meinen Brillenrahmen zurück?«
»Wie meinst du das?«
»Wenn du die Gläser in deinen guten Rahmen aus Buchsbaumholz eingesetzt hast, ist meiner für den Herrn doch unbrauchbar.«
»Ich habe diesen Rahmen nicht für ihn geschnitzt.«
»Für wen dann?«
|30| »Bitte frage nicht danach. Es ist besser, du weißt nichts davon. Kannst du diesmal auf mich hören?«
Sie schluckte.
In der Nacht erwachte Catherine, weil vor dem Tor jemand um Einlaß rief. Die Torflügel knarrten. Ein Pferd wieherte. Gedämpfte Stimmen.
Sie richtete sich auf. Plötzlich Elias’ Hand auf ihrem Arm: »Nein, Catherine.«
»Ich gehe kurz nachschauen.«
»Bleib.«
Sie wollte sich freiwinden, wollte Fragen stellen. Seine Hand hielt sie fest wie eine eiserne Spange.
Doktor Hereford schmeckte den Hauch der erloschenen Talglichtflamme: ein würziges Stechen in Mund und Nase. Obwohl es nun finster war, schloß er die Augen, um besser lauschen zu können. Der alte Schuster schnaufte im Schlaf. Er hatte das Knallen der Pferdehufe auf dem Brückenpflaster nicht gehört, auch nicht ihr sanftes Getrapp den Weg zur Burg hinauf. Der Schuster hatte wenig zu befürchten. Sie jagten nicht ihn.
Doktor Hereford tastete nach dem Fuß der Lampe. Hatte er das Licht rechtzeitig ausgeblasen? Ein Haus im Dorf, das nach Mitternacht in die Hügel leuchtete, mußte Verdacht erregen. Wenn sie ihn in die Klauen bekamen! Er wußte von Folter und Gefängnis. Fleisch unter der Glut von Eisenhaken, das zurückzucken wollte und doch gegen die sengende Hitze gepreßt wurde; Hunger, Kälte; Dunkelheit, die einem verschwieg, ob es Tag oder Nacht war und ob Wochen oder Monate oder Jahre verstrichen, Dunkelheit, die einen daran hinderte zu wachen und daran hinderte zu schlafen und einen so einklemmte zwischen Tod und Leben – um nichts in der Welt wollte er diese Qualen noch einmal erleiden.
Er legte die Rechte mit gespreizten Fingern auf den Buchdeckel der
Glossa Ordinaria
, die Linke ließ er auf die
Postillae litteralis super totam Bibliam
niedersinken. Tag für Tag halfen |31| ihm die Bibelkommentare bei der Arbeit mit schwierigen Textstellen. Warum spendeten sie nun keinen Trost? Leblos waren die Bücher. Im Dunkeln waren sie groß wie Möbelstücke.
Er fuhr zusammen. Ein Pferdewiehern von der Burg.
Mit bebenden Fingerspitzen strich er sich über die Lippen. Seine Haut war zu Pergament geworden, hatte die Bücher in sich aufgesogen. »Sie jagen dich, Nicholas.« Sie jagten den Professor der Universität Oxford, Fachbereich Heilige Schrift, der in die Fußtapfen Wycliffes getreten war. Satan, der
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