Die Brooklyn-Revue
Gefallen hatte, ließ Dunkel Frères sich in ästhetischen Dingen nie auf eine bestimmte Position festlegen. Pop und Op, Minimalismus und abstrakte Kunst, Pattern Painting und Fotografien, Videokunst und Neoexpressionismus – im Lauf der Jahre zeigten Harry und sein Phantombruder Werke sämtlicher Trends und Richtungen der Epoche. Die meisten Ausstellungen waren Flops. Das stand zu erwarten, gefährlicher für die Zukunft der Galerie waren jedoch die Abgänge des halben Dutzends echter Künstler, die Harry nach und nach entdeckt hatte. Er verhalf irgendeinem jungen Menschen zum Durchbruch, förderte seine Arbeit mit viel Gespür und Aufschneiderei, erschloss den Markt, begann ordentliche Profite zu machen, und dann, nach zwei oder drei Ausstellungen, sprang der Künstler ab und ging nach New York. Das war das Problem, wenn man seinen Sitz in Chicago hatte, und Harry begriff, dass die wahrhaft Talentierten an diesem Schritt gar nicht vorbeikamen.
Aber Harry war ein Glückspilz. 1976 erschien ein zweiunddreißigjähriger Maler namens Alec Smith in der Galerie und gab ein Päckchen Dias ab. Harry war an diesem Tag nicht da; erst am folgenden Nachmittag gab ihm seine Mitarbeiterin den Umschlag, und als er die Dias herausnahm, um sie – auf nichts, allenfalls auf eine Enttäuschung gefasst – rasch einmal vor dem Fenster durchzusehen, merkte er sofort, dass er große Kunst vor sich hatte. Smiths Arbeiten besaßen alles: Kühnheit, Farbe, Energie und Licht. Figurenwirbelten durch klatschend aufgetragene Farbbahnen, vibrierende Ausbrüche glühender Emotionen, ein Schrei aus tiefster Seele, so wahr, so voller Leidenschaft, dass Lebensfreude und Verzweiflung gleichermaßen aus diesen Bildern zu sprechen schienen. Gemälde dieser Art hatte Harry noch nie zuvor gesehen, und ihr Eindruck war so gewaltig, dass ihm plötzlich die Hände zitterten. Er setzte sich hin, studierte jedes einzelne der siebenundvierzig Bilder auf seinem kleinen Diabetrachter, und dann griff er zum Telefon und bot Smith eine Ausstellung an.
Im Gegensatz zu den anderen jungen Künstlern, die Harry gefördert hatte, wollte Smith mit New York nichts zu tun haben. Er hatte bereits sechs Jahre dort gelebt und war, von jeder einzelnen Galerie in der Stadt abgewiesen, verbittert und zornig nach Chicago zurückgekehrt. Er schäumte vor Verachtung für die Kunstwelt und all die blutsaugerischen und raffgierigen Huren, die sie bevölkerten. Harry nannte Smith sein «mürrisches Genie», doch seiner Barschheit und gelegentlichen Streitsucht zum Trotz verbarg sich unter Smiths rauer Schale doch ein weicher Kern. Er wusste, was Loyalität bedeutete, und hatte, einmal im Stall der Dunkel Frères untergekommen, nicht die Absicht, dort wieder auszubrechen. Harry war der Mann, der ihn vor dem Vergessen bewahrt hatte, und daher sollte Harry sein Leben lang derjenige sein, der Smiths Bilder unter die Leute brachte.
Harry hatte seinen ersten Künstler von wahrem Format entdeckt, und in den folgenden acht Jahren blieb die Galerie dank Smiths Bildern in den schwarzen Zahlen. Nach dem Erfolg der Ausstellung von 1976 (alle siebzehn Bilder und einunddreißig Zeichnungen waren am Ende der zweiten Woche verkauft) verschwand Smith mit Frau und kleinem Sohn wie der geölte Blitz aus der Stadt und kaufte sich einHaus in Oaxaca in Mexiko. Von da an rührte sich der Künstler nicht mehr vom Fleck, nie wieder setzte er einen Fuß nach Amerika – nicht einmal, um die jährlichen Ausstellungen seiner Arbeiten in Chicago zu besuchen, geschweige denn die Retrospektiven, die, als sein Ruhm wuchs, von Museen im ganzen Land veranstaltet wurden. Wenn Harry ihn sehen wollte, musste er nach Mexiko fliegen – das tat er etwa zweimal im Jahr –, im Übrigen aber hielt er Kontakt durch Briefe und gelegentliche Anrufe. Das alles stellte für den Leiter von Dunkel Frères kein Problem dar. Smiths Produktivität war erstaunlich, alle paar Monate trafen Kisten mit neuen Gemälden und Zeichnungen in der Galerie in Chicago ein, die zu immer erfreulicheren Preisen Absatz fanden. Die Konstellation war ideal und hätte zweifellos noch viele Jahrzehnte Bestand gehabt, aber dann pumpte Smith sich drei Tage vor seinem vierzigsten Geburtstag mit Tequila voll und sprang vom Dach seines Hauses. Seine Frau sprach von einer albernen Torheit, die leider schief gegangen sei; seine Geliebte sprach von Selbstmord. So oder so, Alec Smith war tot, und das stolze Schiff Harry Dunkel begann zu sinken.
Auftritt
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