Die Brooklyn-Revue
des jungen Künstlers Gordon Dryer. Sechs Monate vor der Katastrophe mit Smith hatte Harry seine erste Ausstellung veranstaltet – nicht weil Dryers Werk ihn beeindruckte (strenge, allzu rationale abstrakte Gemälde, von denen kein einziges verkauft wurde und die insgesamt keine einzige positive Besprechung erhielten), sondern weil Dryer selbst eine unwiderstehliche Persönlichkeit war, ein Einunddreißigjähriger, der aussah wie achtzehn, mit einem zierlichen, femininen Gesicht, schmalen, marmorweißen Händen und einem Mund, den Harry am liebsten sofort geküsst hätte, als er ihn zum ersten Mal erblickte. Nach sechzehn Ehejahren mit Bette wurde Toms zukünftiger Arbeitgeberschließlich schwach. Das war kein flüchtiges kleines Abenteuer, sondern ein Rausch, ein ausgewachsenes Delirium, eine Feuersbrunst an Liebe. Und der ehrgeizige Dryer, dem so sehr daran lag, sein Werk bei Dunkel Frères auszustellen, ließ sich bereitwillig von dem vierschrötigen, fünfzig Jahre alten Harry verführen. Vielleicht war es auch umgekehrt, und Dryer selbst war der Verführer. Wie auch immer es dazu kam, es geschah, als der Galeriebesitzer das Atelier des Künstlers besuchte, um sich dessen neueste Bilder anzusehen. Der schöne Jüngling erriet Harrys Absichten schnell, und nach zwanzig Minuten belanglosen Geplauders über die Verdienste des geometrischen Minimalismus ging er lässig vor dem Händler in die Knie und zog ihm den Reißverschluss der Hose auf.
Nach der lauen Reaktion auf Dryers Ausstellung geriet der Reißverschluss immer öfter in Bewegung, und bald suchte Harry mehrmals die Woche das Atelier des Malers auf. Dryer machte sich Sorgen, dass Harry ihn von der Liste seiner Künstler streichen könnte, und hatte zum Ausgleich nichts als seinen Körper anzubieten. Harry bekam in seiner Verliebtheit nicht mit, dass er benutzt wurde, und wenn er es mitbekommen hätte, wäre es ihm wahrscheinlich egal gewesen. So töricht ist des Menschen Herz. Er hielt die Affäre vor Bette geheim, und da sich bei der fünfzehnjährigen Flora bereits die ersten Symptome einer fortschreitenden Schizophrenie bemerkbar machten, verbrachte er so viel Zeit zu Hause bei seiner Familie, wie sein Terminplan zuließ. Die Nachmittage waren für Gordon reserviert, abends jedoch schlüpfte er in die Rolle des pflichtgetreuen Gatten und Vaters zurück. Dann kam die niederschmetternde Nachricht vom Tode Smiths, und Harry geriet in Panik. Er hatte noch etliche Bilder von ihm zu verkaufen, aber nach sechs Monaten oder einem Jahr wäre der Vorrat aufgebraucht.Und was dann? Dunkel Frères arbeitete auch so schon kaum kostendeckend, und Bette hatte bereits so viel Geld in die Galerie gesteckt, dass Harry sie unmöglich um weitere Unterstützung bitten konnte. Der plötzliche Ausfall Smiths bedeutete das Aus für seine Galerie. Wenn nicht heute, dann morgen, und wenn nicht morgen, dann übermorgen. Denn die Wahrheit sah so aus, dass Harry von Geschäften nicht die geringste Ahnung hatte. Er hatte sich darauf verlassen, dass der streitsüchtige Smith seine Ausschweifungen und Exzesse schon irgendwie finanzieren würde (die opulenten Partys und Festessen für zweihundert Leute, die Privatjets, die Autos mit Chauffeur, die schwachsinnigen Spekulationen mit zweit- und drittklassigen Talenten, die monatlichen Stipendien für Künstler, deren Werke sich nicht verkauften), aber die Gans hatte in Mexiko den Abflug gemacht und würde ihm künftig keine goldenen Eier mehr legen.
Hier nun kam Dryer mit seinem Plan, der Harry von seinen Sorgen erlösen sollte. Das mit dem Sex war ja gut und schön, aber wenn er sich wirklich unentbehrlich machen konnte, wäre seine Karriere als Künstler gesichert. Dryers Arbeiten mochten von kaltem Intellektualismus geprägt sein, aber er besaß ein enormes natürliches Talent für Komposition und Farbgebung. Dieses Talent hatte er zugunsten einer Idee unterdrückt, zugunsten einer Auffassung von Kunst, die Strenge und Genauigkeit über alles stellte. Er hasste Smiths überschwänglichen Sinn für das Romantische mit seinen blumigen Gesten und schwülstigen Anwandlungen, aber das bedeutete nicht, dass er diesen Stil nicht nachahmen konnte, wenn er wollte. Warum also sollte er nach Smiths Tod nicht dessen Werk fortsetzen? Die letzten Gemälde des jungen Meisters, den es in der Blüte seiner Jahre dahingerafft hatte? Eine öffentliche Ausstellung wärenatürlich zu riskant (Smiths Witwe würde davon erfahren und die Sache auffliegen
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