Die Brooklyn-Revue
sich wieder mit Philosophie beschäftigte. Aus Gründen, die mir entfallen sind, machte er eine geistige Krise durch und erlitt einen Nervenzusammenbruch. Während er sich davon erholte, kam er zu dem Schluss, dass er seine Gesundheit nur wiederherstellen konnte, wenn er in seine Vergangenheit zurückkehrte und sich bei jedem einzelnen Menschenentschuldigte, dem er jemals Schaden oder Unrecht zugefügt hatte. Er wollte sich von der Schuld reinigen, die in ihm schwärte, wollte sein Gewissen erleichtern und noch einmal von vorn anfangen. Naturgemäß gelangte er so auch in das kleine österreichische Bergdorf zurück. Seine ehemaligen Schüler waren jetzt erwachsen, Männer und Frauen Mitte bis Ende zwanzig, und doch war bei keinem von ihnen in all den Jahren die Erinnerung an den grausamen Lehrer verblasst. Bei einem nach dem anderen klopfte Wittgenstein an und bat um Verzeihung für die unverzeihlichen Grausamkeiten, die er zwei Jahrzehnte zuvor begangen hatte. Vor einigen fiel er buchstäblich auf die Knie und flehte sie um Vergebung für seine Sünden an. Man sollte meinen, dass angesichts einer so aufrichtigen Zerknirschung jeder Mensch Mitleid für den leidenden Pilger empfinden und sich erweichen lassen müsste, doch tatsächlich war kein einziger seiner alten Schüler bereit, ihm zu verzeihen. Der Schmerz, den er ihnen bereitet hatte, war zu tief gegangen, und ihr Hass auf ihn überstieg jede Möglichkeit der Exkulpation.
Trotz allem war ich mir einigermaßen sicher, dass Rachel keinen Hass auf mich empfand. Sie war sauer auf mich, stocksauer, sie war frustriert, aber ich glaubte nicht, dass ihre Erbitterung stark genug war, uns auf Dauer zu spalten. Dennoch konnte ich nichts riskieren, und als ich schließlich die endgültige Fassung des Briefs beisammenhatte, war ich von tiefster Bußfertigkeit erfüllt. «Verzeih deinem Vater, dass er dir mit blöden Sprüchen gekommen ist», fing ich an, «und dir Dinge gesagt hat, die er jetzt zutiefst bedauert. Du bist von allen Menschen auf der Welt derjenige, der mir am meisten bedeutet. Du bist Blut von meinem Blut, du bist mein Augapfel, und mich zerreißt der Gedanke, dass meine idiotischen Bemerkungen böses Blut zwischen uns gestiftethaben könnten. Ohne dich bin ich nichts. Ohne dich bin ich niemand. Meine liebe, geliebte Rachel, bitte gib deinem schwachsinnigen Alten eine Chance, seinen Fehler wieder gutzumachen.»
In diesem Ton fuhr ich noch einige Absätze fort, um den Brief mit der guten Neuigkeit zu beenden, dass ihr Vetter Tom auf wundersame Weise in Brooklyn aufgetaucht sei und sich darauf freue, sie wiederzusehen und Terrence (ihren aus England stammenden Ehemann, der an der Rutgers Biologie lehrte) kennen zu lernen. Vielleicht könnten wir uns alle einmal in der Stadt zum Essen treffen. Möglichst bald, hoffte ich. In den kommenden Tagen oder Wochen – wann immer sie Zeit habe.
Über drei Stunden hatte ich für die Arbeit gebraucht, und jetzt war ich physisch und psychisch vollkommen erschöpft. Da es mir jedoch nicht weiterhalf, den Brief in der Wohnung herumliegen zu lassen, ging ich sofort los und warf ihn in einen der Briefkästen vor dem Postamt in der Seventh Avenue. Inzwischen war es Zeit zum Abendessen, aber ich verspürte kein bisschen Hunger. Stattdessen ging ich noch ein paar Straßen weiter zu Shea’s, unserem Schnapsladen, und kaufte mir eine Flasche Scotch und zwei Flaschen Rotwein. Ich trinke nicht viel, aber es gibt im Leben eines Mannes Augenblicke, da ist Alkohol einfach nahrhafter als feste Kost. Das war jetzt mal einer. Die Begegnung mit Tom hatte meiner Moral enormen Auftrieb gegeben, aber nun war ich wieder allein, und plötzlich traf mich die Erkenntnis, was für ein jämmerlicher, isolierter Mensch aus mir geworden war – ein zielloser, beziehungsloser Klumpen Menschenfleisch. Ich neige sonst nicht dazu, mich zu bemitleiden, aber nun gab ich mich für eine Stunde einem Selbstmitleid hin wie ein verzweifelter Heranwachsender. Schließlich, nach zwei Gläsern Scotch undeiner halben Flasche Wein, lichtete sich das Dunkel ein wenig, und ich setzte mich an den Schreibtisch und fügte meinem
Buch menschlicher Torheiten
ein weiteres Kapitel hinzu, eine deftige Anekdote, in der es um eine Toilettenschüssel und einen Elektrorasierer ging. Die Geschichte spielte zu der Zeit, als Rachel auf die High School ging und noch zu Hause wohnte; es war gegen halb vier an einem frostigen Thanksgiving-Donnerstag, in einer halben Stunde
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