Die Brooklyn-Revue
einem anderen in Strapsen und schwarzen Strümpfen, auf einem dritten in kniehohen Lackstiefeln, ab der vierten Seite aber war Rory nackt von Kopf bis Fuß, ihre kleinen Brüste streichelnd, ihre Genitalien berührend, den Hintern rausgestreckt, die Beine so weit gespreizt, dass nichts mehr der Phantasie überlassen blieb, und auf jedem Bild grinste sie, lachte sie, und ihre Augen leuchteten wie vor unbändigem Glück, vollkommen hingegeben, ohne Spur von Unlust oder Ängstlichkeit, als habe sie sich noch nie so wohl gefühlt.
«Das war ein unglaublicher Schock», erzählte Tom. «In zwei Sekunden war mein Schwanz weich wie ein Marshmallow. Ich zog mir die Hose hoch, schnallte den Gürtelzu und verschwand von dort, so schnell ich konnte. Das hat mich umgehauen, Nathan. Meine kleine Schwester, nackt in einem Sexmagazin. Und auf so schreckliche Art davon zu erfahren – aus heiterem Himmel, in dieser verdammten Klinik, genau in dem Moment, wo ich mir einen runterhole. Mir ist buchstäblich schlecht geworden. Nicht nur, weil ich Rory nie so sehen wollte, sondern auch, weil ich seit Jahren nichts mehr von ihr gehört hatte, und diese Bilder schienen meine schlimmsten Albträume zu bestätigen, was aus ihr geworden sein mochte. Sie war erst zweiundzwanzig, und schon war sie an die niedrigste, die erniedrigendste Arbeit geraten: verkaufte ihren Körper für Geld. Das war alles so traurig, dass ich einen ganzen Monat lang hätte heulen können.»
Wenn man so lange gelebt hat wie ich, neigt man zu der Annahme, alles schon mal gehört zu haben und dass einen nichts mehr schockieren kann. Man wird ein wenig selbstgefällig mit seiner so genannten Weltkenntnis, und dann ergibt sich ab und zu einmal etwas, das einen aus dem blasierten Kokon der Überlegenheit herausstößt, das einen daran erinnert, dass man vom Leben noch absolut nichts verstanden hat. Meine arme Nichte. Die genetische Lotterie hatte es so gut mit ihr gemeint, immer nur hatte sie Gewinne gezogen. Anders als Tom, der seine Figur von den Woods geerbt hatte, war Aurora durch und durch eine Glass, und als Familie sind wir im Allgemeinen schlank, knochig und groß. Sie hatte sich zu einer Kopie ihrer Mutter entwickelt – eine langbeinige, dunkelhaarige Schönheit, so biegsam und geschmeidig wie June selbst. Natascha aus
Krieg und Frieden
, im Gegensatz zu ihrem grobschlächtigen, ungeschickten Bruder Pierre. Es versteht sich von selbst, dass jeder Mensch schön sein will, für eine Frau aber kann Schönheit zuweilen ein Fluch sein, besonders für eine jungeFrau wie Aurora: die High School abgebrochen, keinen Mann, dafür eine dreijährige Tochter; ausgestattet mit einer wilden, rebellischen Ader, immer bereit, der Welt eine lange Nase zu machen und jedes Risiko einzugehen. Wenn du knapp bei Kasse bist und dein Aussehen das Einzige ist, womit du was verdienen kannst – warum solltest du Bedenken haben, dich auszuziehen und vor der Kamera zu posieren? Solange du die Situation im Griff behältst, kann das Eingehen auf ein solches Angebot den Unterschied zwischen essen und nicht essen bedeuten, den Unterschied zwischen gut leben und fast nicht mehr leben.
«Vielleicht hat sie es nur dieses eine Mal getan», versuchte ich Tom zu trösten, so gut es ging. «Verstehst du, sie kann die Rechnungen nicht bezahlen, und plötzlich kommt ein Fotograf daher und bietet ihr diese Sache an. Einen Tag arbeiten für ein dickes Bündel Bares.»
Tom schüttelte den Kopf, und seine deprimierte Miene sagte mir, dass meine Bemerkung bloß eine vergebliche Übung in Wunschdenken war. Er hatte nicht alles über sie herausgefunden, war aber überzeugt davon, dass diese Fotosession für
Midnight Blue
weder der Anfang noch das Ende der Geschichte gewesen waren. Aurora hatte als Oben-ohne-Tänzerin in Queens gearbeitet (ausgerechnet im Garden of Earthly Delights, dem Club, vor dem Tom in der Nacht seines dreißigsten Geburtstags die betrunkenen Geschäftsleute abgesetzt hatte), sie hatte in über einem Dutzend Pornofilmen mitgewirkt und sechs- oder siebenmal für Nacktmagazine posiert. Gut achtzehn Monate war sie im Sexbusiness tätig gewesen, und angesichts der guten Bezahlung wäre sie wahrscheinlich noch wesentlich länger dabeigeblieben, aber dann, nur neun oder zehn Wochen nachdem Tom sie in
Midnight Blue
entdeckt hatte, passierte etwas.
«Hoffentlich nichts Schlimmes», sagte ich.
«Schlimmer als schlimm», antwortete Tom und hatte plötzlich Tränen in den Augen. «Sie wurde bei
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