Die Brooklyn-Revue
Rechts wegen sollte er den Segen Isaaks empfangen. Aber Jakob trickst ihn aus – und ausgerechnet mit Hilfe seiner Mutter.»
«Schlimmer noch, Gott scheint die Sache gutzuheißen.Der unehrliche, hinterhältige Jakob wird zum Anführer der Juden, und Esau muss zusehen, wo er bleibt, ein Vergessener, ein nichtswürdiger Niemand.»
«Meine Mutter hat mich immer gelehrt, gut zu sein. ‹Gott möchte, dass du gut bist›, hat sie mir oft erklärt, und da ich noch jung genug war, an Gott zu glauben, habe ich ihr geglaubt. Dann stieß ich in der Bibel auf diese Geschichte und verstand überhaupt nichts mehr. Der Schlechte setzt sich durch, und Gott bestraft ihn nicht. Das kam mir nicht richtig vor. Das kommt mir immer noch nicht richtig vor.»
«Aber natürlich ist es richtig. Jakob war ein heller Bursche, und Esau war ein dummer Tropf. Gutmütig, das schon, aber dumm. Und wenn du einen der beiden zum Führer deines Volkes machen willst, nimmst du den Kämpfer, den Verschlagenen, den Raffinierten, den, der die Kraft hat, sich gegen alle Widerstände durchzusetzen. Du nimmst den Starken und Klugen, nicht den Schwachen und Freundlichen.»
«Ganz schön brutal, Nathan. Wenn du mit deiner Argumentation noch einen Schritt weiter gehst, erzählst du mir als Nächstes, dass man Stalin als großen Mann verehren sollte.»
«Stalin war ein Verbrecher, ein psychotischer Mörder. Ich rede vom Überlebensinstinkt, Tom, dem Willen zu leben. Ein gerissener Schurke ist mir jederzeit lieber als ein frommer Trottel. Er mag sich nicht immer an die Regeln halten, aber er hat Schwung. Und solange noch jemand Schwung hat, gibt es Hoffnung für die Welt.»
IN NATURA
A ls wir noch einen Block vom Laden entfernt waren, kam mir plötzlich der Gedanke, dass Floras Besuch in Brooklyn nur bedeuten konnte, dass Harry noch Kontakt zu seiner Exfrau und seiner Tochter hatte – ein klarer Verstoß gegen den von ihm unterschriebenen Vertrag mit Dombrowski. Warum aber hatte der Alte sich dann nicht auf ihn gestürzt und das Haus in der Seventh Avenue zurückverlangt? Wie ich den Handel verstanden hatte, wäre Bettes Vater dadurch berechtigt gewesen, Harry achtkantig aus Brightman’s Attic rauszuschmeißen und den Laden selbst zu übernehmen. Ich fragte Tom, ob ich was überhört hätte oder ob es eine Fortsetzung der Geschichte gebe, die er mir noch nicht erzählt habe?
Nein, Tom hatte nichts ausgelassen. Der Vertrag galt nicht mehr aus dem schlichten Grund, dass Dombrowski gestorben war.
«Ist er eines natürlichen Todes gestorben», fragte ich, «oder hat Harry ihn umgebracht?»
«Sehr witzig», sagte Tom.
«Du hast das Thema aufgebracht, nicht ich. Weißt du nicht mehr? Du hast gesagt, Harry habe geschworen, Dombrowski umzubringen, sobald er aus dem Gefängnis kommt.»
«Die Leute reden viel, aber das heißt noch lange nicht, dass sie alles tun, was sie sagen. Dombrowski hat vor drei Jahren ins Gras gebissen. Er war einundneunzig, er ist an einem Schlaganfall gestorben.»
«Sagt Harry.»
Tom lachte über die Bemerkung, aber gleichzeitig spürte ich, dass mein spaßhafter, sarkastischer Ton ihm allmählich auf die Nerven ging. «Lass das, Nathan. Ja, Harry sagt das. Alles was ich dir erzählt habe, hat Harry gesagt. Das weißt du genauso gut wie ich.»
«Du brauchst keine Schuldgefühle zu haben, Tom. Ich werde dich nicht verraten.»
«Mich nicht verraten? Was soll das denn heißen?»
«Du weißt nicht, ob es richtig war, mich in Harrys Geheimnisse einzuweihen. Er hat dir seine Geschichte im Vertrauen erzählt, und jetzt hast du sie mir erzählt und damit das Vertrauen gebrochen. Keine Sorge, mein Lieber. Kann sein, dass ich mich manchmal schwer danebenbenehme, aber meine Lippen sind versiegelt. Angekommen? Harry Dunkel ist mir unbekannt. Der Einzige, dem ich heute die Hand geben werde, ist Harry Brightman.»
Wir fanden ihn in seinem Büro im ersten Stock, dort saß er hinter einem großen Mahagonischreibtisch und telefonierte. Ich weiß noch, er trug ein violettes Samtjackett, aus dessen linker Brusttasche ein buntes Seidentüchlein spross. Es sah aus wie eine seltene Tropenblume, eine Blüte, die in der braungrauen Umgebung des mit Büchern gefüllten Zimmers sofort ins Auge stach. Auf andere Details seiner Kleidung kann ich mich momentan nicht besinnen, aber die interessierten mich auch nicht so sehr wie sein breites, fleischiges Gesicht, seine außerordentlich runden, ein wenig hervortretenden blauen Augen und die eigenartige
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