Die Bruderschaft der Nacht: Thriller (German Edition)
Geschäften vorsichtiger sein sollen, besser auf die Herkunft achten sollen, sagte er sich, selbst als ihm klar wurde, dass er sich lediglich die Lügen zurechtlegte, die er dem Mann vor seiner Tür als Entschuldigung anbieten könnte, falls dies nötig sein sollte.
Er griff mit der linken Hand nach seinem Wein, verschätzte sich aber. Das Glas fiel zu Boden, und der Inhalt ergoss sich über seine Hausschuhe und die Hosenaufschläge. Fluchend ging Webber wieder zur Gegensprechanlage. Der Mann war noch immer da.
»Ich bin im Moment ziemlich beschäftigt«, sagte er. »Wir können das doch sicher zu den normalen Geschäftszeiten besprechen.«
»Das sollte man meinen«, lautete die Antwort. »Aber offenbar können wir nur schwer zu Ihnen vordringen. Man hat schon eine ganze Reihe von Nachrichten bei Ihrem Telefonservice und in Ihrer Geschäftsstelle hinterlassen. Wenn wir es nicht besser wüssten, könnten wir zu der Annahme gelangen, dass Sie uns bewusst aus dem Weg gehen.«
»Worum geht es denn überhaupt?«
»Mr Webber, Sie stellen meine Geduld auf eine harte Probe, und die der Stiftung ebenfalls.«
Webber gab klein bei. »Okay, ich komme.«
Er warf einen Blick auf die Weinpfütze auf dem schwarz-weiß gefliesten Boden und wich vorsichtig den Glassplittern aus. So ein Jammer, dachte er, als er die Schürze ablegte. Er ging zur Haustür und hielt nur kurz inne, um den Revolver aus der Flurgarderobe zu holen und unter die Strickjacke hinten in den Hosenbund zu schieben. Die Waffe war klein und ließ sich leicht verstecken. Er warf einen kurzen Blick in den Spiegel und öffnete die Tür.
Der Mann auf dem Podest war kleiner, als er erwartet hatte, und trug einen dunkelblauen Anzug, der einst teuer gewesen sein mochte, aber jetzt altmodisch wirkte, obwohl er die zurückliegenden Jahre mit einer gewissen Eleganz überstanden hatte. In der Brusttasche war ein blau-weiß getupftes Einstecktuch zu sehen, das zu der Krawatte des Mannes passte. Er hielt den Kopf noch immer gesenkt, doch diesmal nur, um den Hut abzunehmen. Einen Moment lang meinte Webber, mit dem Hut löse sich auch das Schädeldach des Besuchers vom Kopf wie bei einem Ei, das sauber aufgeschlagen wurde, so dass er in dessen Schädelhöhle blicken konnte. Stattdessen kamen dort nur lose weiße Strähnen, die wie Zuckerwattefäden wirkten, und ein gewölbter Kopf zum Vorschein. Dann blickte der Mann zu ihm auf, und Webber wich unwillkürlich einen Schritt zurück.
Das Gesicht war kreidebleich, die Nasenlöcher wirkten wie dunkle Schlitze, die in die schmale, kerzengerade Nase geschnitten waren. Die Haut um die Augen war runzlig und bläulich verfärbt. Sie kündete von Krankheit und Verfall. Die Augen selbst waren kaum zu sehen, da sie von Hautfalten verdeckt wurden, die von der Stirn herabhingen wie schmelzendes Wachs, das von einer schmutzigen Kerze tropfte. Unter den Augäpfeln war rotes Fleisch zu sehen, als wäre der Mann fortwährend Sand und Staub ausgesetzt.
Aber was Schmerzen anging, hatte der Mann offenkundig ganz andere Sorgen. Seine Oberlippe war verunstaltet und erinnerte Webber an Fotos von Kindern mit einer Hasenscharte, die in den Sonntagszeitungen abgebildet wurden, um wohltätige Spenden einzutreiben, nur dass es sich hier nicht um eine Hasenscharte handelte. Es war vielmehr eine Wunde, ein pfeilspitzenförmiger Einschnitt in die Haut, durch den weiße Zähne und verfärbtes Zahnfleisch zu sehen waren. Außerdem war alles rot entzündet und stellenweise mit lila Punkten übersät, die ins Schwärzliche übergingen. Webber meinte förmlich die Bakterien zu sehen, die das Fleisch verzehrten, und fragte sich, wie der Mann die Qualen ertragen konnte und was für Drogen er nehmen musste, nur damit er schlafen konnte. Und wie konnte er in den Spiegel schauen, wenn er dadurch ständig daran erinnert wurde, dass sein Körper ihn im Stich ließ und der Tod unmittelbar bevorstand? Wegen der Krankheit und der Verunstaltungen ließ sich sein Alter nicht einschätzen, aber Webber vermutete, dass er zwischen fünfzig und sechzig war.
»Mr Webber«, sagte er, und trotz der Wunde war seine Stimme sanft und angenehm. »Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle. Mein Name ist Herod.« Er lächelte, und Webber musste sich dazu zwingen, keine Miene zu verziehen und sich seine Abscheu nicht anmerken zu lassen, denn er befürchtete, durch die Mundbewegung seines Besuchers könnte die Wunde an dessen Oberlippe bis zur Nasenscheidewand hin aufreißen. »Ich
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