Die Bruderschaft der Nacht: Thriller (German Edition)
sagen, aber er ist kein Sammler. Er ist ein Krimineller, ein Drogendealer. Ich habe ihm früher schon beim Verkauf von bestimmten Gegenständen geholfen, deshalb hat er sich an mich gewandt. Wenn er wirklich noch andere Siegel hat, dann hat er sie vermutlich gestohlen oder sich zum Begleichen einer Schuld geben lassen. Jedenfalls hat er keine Ahnung, was sie wirklich wert sind.«
»Was haben Sie ihm gesagt?«
»Dass ich Erkundigungen einhole und mich wieder bei ihm melde. Er hat mir zwei Tage Zeit gelassen. Ansonsten droht er damit, die Edelsteine von den übrigen Siegeln abzubrechen und zu verkaufen.«
Obwohl das für ihn zweitrangig war, zischte Herod missbilligend, und er stellte fest, dass er den Mann, der diese Drohung geäußert hatte, bereits verabscheute. Umso besser. Dadurch würde ihm das, was er demnächst tun musste, nur leichter fallen.
»Das haben Sie gut gemacht«, sagte er. »Sie werden reichlich belohnt werden.«
»Danke. Wollen Sie, dass ich noch mehr über diesen Raul in Erfahrung bringe?«
»Natürlich, aber seien Sie diskret.«
Herod legte auf. Seine Müdigkeit verflog. Das hier war wichtig. Er hatte so lange gesucht, und jetzt war er dem Gesuchten möglicherweise ganz nah – die Legende nahm Gestalt an.
Er spürte, dass er auf die Toilette musste, deshalb riss er sich von der Abgeschiedenheit seiner Bibliothek los und ging durch das Wohnzimmer in sein Schlafzimmer. Er benutzte immer die angrenzende Toilette, nie das große Badezimmer, weil die hier leichter sauber zu halten war. Er stellte sich vor das Klo, schloss die Augen und spürte, wie sich die willkommene Erleichterung einstellte. So eine kleine Freude, und doch sollte man sie nicht unterschätzen. Sein Körper ließ ihn in vielerlei Hinsicht im Stich, umso mehr genoss er das Hochgefühl darüber, dass wenigstens noch ein Organ anständig funktionierte.
Als das letzte Tröpfeln verklang, öffnete Herod die Augen und betrachtete sich im Spiegel. Die Wunde an seinem Mund quälte ihn. Die Chirurgen wollten noch einmal versuchen, das nekrotische Gewebe zu entfernen, und ihm würde nichts anderes übrigbleiben, als sich damit einverstanden zu erklären. Doch es war ihnen vorher schon nicht gelungen, so wie auch die Chemotherapie das ungezügelte Wuchern seiner Zellen nicht aufhalten konnte. Er wurde lebendigen Leibes davon aufgefressen, inwendig und äußerlich. Ein Geringerer hätte mittlerweile schon aufgegeben und beschlossen, dem Ganzen ein Ende zu setzen, aber Herod hatte ein Ziel. Man hatte ihm eine Belohnung versprochen: Ein Ende seiner Leiden, worauf andere von noch größerem Leid heimgesucht werden sollten. Dieses Versprechen hatte man ihm gegeben, als er starb, und nach seiner Rückkehr ins Leben hatte er seine große Suche begonnen, und seine Sammlung wuchs beständig.
Er seufzte und knöpfte seine Hose zu. Er lehnte Reißverschlüsse ab. Er war ein altmodischer Mann. Einer der Knöpfe machte ihm Schwierigkeiten, deshalb blickte er nach unten, als er sich darum bemühte, ihn durch das Loch zu schieben.
Als er wieder in den Spiegel blickte, hatte er keine Augen.
Herod war am 14. Dezember 2003 gestorben. Er hatte bei einer Operation einen Herzstillstand erlitten, als man ihm bei einem ersten vergeblichen Versuch, den Krebs aufzuhalten, eine Niere entfernte. Später bezeichneten die Chirurgen den Vorfall als ungewöhnlich, ja sogar unerklärlich. Herods Herz hätte nicht aufhören dürfen zu schlagen. Sie hatten gekämpft, um ihn zu retten, ihn zurückzuholen, und es war ihnen gelungen. Ein Geistlicher besuchte ihn, als er sich auf der Intensivstation erholte, und erkundigte sich, ob Herod reden oder beten wollte. Herod schüttelte den Kopf.
»Man hat mir gesagt, dass Sie auf dem Operationstisch einen Herzstillstand hatten«, sagte der Priester. Er war über fünfzig und übergewichtig, hatte ein rotes Gesicht und freundlich funkelnde Augen. »Sie sind gestorben und zurückgekehrt. Das können nicht viele Menschen von sich behaupten.«
Er lächelte, aber Herod erwiderte das Lächeln nicht. Seine Stimme war schwach, und seine Brust schmerzte beim Sprechen.
»Wollen Sie erfahren, was im Jenseits ist, Priester«, fragte er, und trotz des geschwächten Zustands, in dem der Mann sich befand, bemerkte der Priester dessen feindseligen Unterton. »Es war, als ob sich dunkles Wasser über dem Kopf schließt, als würde ich mit einem Kissen erstickt. Ich habe gespürt, wie es kommt, und ich wusste Bescheid. Nach diesem Leben
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