Die Bruderschaft der Nacht: Thriller (German Edition)
gibt es nichts mehr. Nichts. Sind Sie jetzt zufrieden?«
Der Priester stand auf.
»Ich lasse Ihnen jetzt Ihre Ruhe«, sagte er und störte sich nicht an der Gehässigkeit des Mannes. Er hatte schon Schlimmeres gehört, und er war stark im Glauben. Seltsamerweise hatte er das Gefühl, dass der Patient, dieser Herod, log – woher kam dieser Name eigentlich, oder hatte er ihn als eine Art üblen Scherz ausgewählt? Es war sehr merkwürdig, aber gleichzeitig wurde ihm noch etwas anderes klar. Wenn Herod log, wollte der Priester die Wahrheit nicht wissen. Nicht diese Wahrheit jedenfalls. Nicht Herods Wahrheit.
Herod blickte dem Priester hinterher, dann schloss er die Augen und bereitete sich darauf vor, seinen eigenen Tod noch einmal zu durchleben.
Da war Licht. Es schien auf seine Lider. Er öffnete die Augen.
Er lag auf dem Operationstisch. An seiner Seite war eine offene Wunde, aber sie bereitete ihm keine Schmerzen. Er berührte sie mit den Fingern, und als er sie wegzog, waren sie voller Blut. Er blickte sich um, aber der OP -Saal war menschenleer. Nein, nicht nur menschenleer, er war verlassen, und zwar schon seit einiger Zeit. Vom OP -Tisch aus sah er Rost an den Instrumenten und Staub und Schmutz an den Fliesen und den Stahlschalen. Rechts von ihm ertönte ein Klackern, und er sah eine Kakerlake, die in ihr Versteck huschte. Er lag in einem Lichtkreis, der von der großen Lampe stammte, die über ihm brannte, und eine sanftere Beleuchtung waberte ringsum über die Wände, doch er konnte deren Quelle nicht erkennen.
Er setzte sich auf, dann stellte er die Füße auf den Boden. Ein übler Geruch stieg ihm in die Nase, der Gestank des Verfalls. Er spürte Staub zwischen den Zehen und blickte hinab. Keine anderen Fußabdrücke waren zu sehen. Das Waschbecken rechts von ihm war voller brauner, vertrockneter Blutflecken. Er drehte den Hahn auf. Kein Wasser kam, aber er hörte Geräusche aus den Rohren dringen. Sie hallten im Raum wider und beunruhigten ihn. Er drehte den Hahn wieder zu, worauf die Geräusche aufhörten.
Erst als er die Geräusche aus den Rohren wahrnahm, wurde ihm klar, wie still es hier war. Er schob sich durch die Türen des OP und hielt kaum inne, um sich im verlassenen Vorbereitungsraum umzusehen. Auch hier waren die Waschbecken voller Blutflecken, aber es war auch auf den Boden und die Wände gespritzt, und ein großer Schwall war allem Anschein nach sogar aus dem Becken gekommen, so als ob die Rohre sämtliche Flüssigkeiten ausgespien hätten, die im Laufe der Zeit in sie gespült worden waren. Die Spiegel über den Waschbecken waren fast gänzlich mit getrocknetem Blut verkrustet, doch an einer staubigen, aber ansonsten freien Stelle konnte er sich kurz sehen. Er wirkte blass und hatte gelbe Flecken um den Mund, doch abgesehen von dem Loch an seiner Seite wirkte er gesund. Er konnte immer noch nicht verstehen, weshalb er keine Schmerzen hatte.
Er sollte eigentlich Schmerzen haben. Ich will Schmerzen haben. Schmerzen bestätigen mir, dass ich am Leben bin und nicht …
Tot? Ist das der Tod?
Er lief weiter. Der Flur hinter dem OP -Saal war bis auf zwei Rollstühle leer, und das Schwesternzimmer war verlassen. In jedem Zimmer, an dem er vorbeiging, stand ein ungemachtes Bett, und auf dem Boden lagen beiseitegeworfene, schmutzige Laken, die von den Matratzen gezerrt worden waren, von denen –
Von denen die Patienten sich nicht wegschleifen lassen wollten, dachte er. Sie hatten sich mit letzter Kraft an die Laken geklammert, um zu verhindern, was hier geschah. Der Anblick erinnerte ihn an ein Krankenhaus, das im Krieg evakuiert und nie wieder in Betrieb genommen worden war oder aus dem man die Patienten verlegt hatte, als der Feind anrückte und das Massaker anfing. Aber wenn dem so war, wo waren dann die Leichen? Herod dachte an die Bilder aus alten Nachrichtenfilmen aus dem Zweiten Weltkrieg, von Dörfern, die von den Nazis gesäubert worden waren und in denen die sterblichen Überreste der Toten verstreut herumlagen wie zerschellte Krähen, die an einem warmen, windstillen Tag den Highway übersäten. An fahle Gestalten, die in den Massengräbern der Lager übereinanderlagen wie die Wesen aus den Alptraumbildern eines Hieronymus Bosch.
Leichen. Wo waren die Leichen?
Er kam um eine Ecke. Zwei Aufzugtüren standen offen, und dahinter gähnte der leere Schacht. Er stützte sich vorsichtig an der Wand ab und spähte hinunter. Einen Moment lang sah er gar nichts, nur Schwärze, doch
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