Die Bruderschaft der Nacht: Thriller (German Edition)
Ständer für sie anfertigen lassen. Nein, noch besser, er würde selbst einen schnitzen, denn er hatte schon immer geschickte Hände gehabt.
Auf dem Sims stand bereits ein Schrein für Jesús Malverde, dem mexikanischen Robin Hood und Schutzheiligen der Drogendealer. Die Statue von Malverde mit dem Schnurrbart und dem weißen Hemd hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem mexikanischen Filmstar und Sänger Pedro Infante, auch wenn Malverde 1909 von der Polizei getötet worden war, acht Jahre bevor Pedro geboren wurde. Rojas war davon überzeugt, dass Malverde es gutheißen würde, wenn die Siegel neben ihm lagen, und Rojas’ Unternehmungen dafür möglicherweise mit einem Lächeln bedenken.
Und so wurde aus dem »könnte« ein »würde«, und er beschloss, die Siegel zu behalten.
14
Das Zimmer war nahezu kreisrund, wie eine Turmkammer, und vom Boden bis zur Decke von Büchern gesäumt. Es hatte einen Durchmesser von etwa zwölf Metern und wurde von einem Bankiersschreibtisch beherrscht, auf dem eine Lampe mit grünem Schirm stand. Unweit davon befand sich eine modernere Lichtquelle aus Edelstahl, die sich beliebig drehen, kippen und so einstellen ließ, dass sie nur einen dünnen Lichtstrahl warf. Daneben lagen eine Lupe und diverse Werkzeuge: kleine Messer, Greifzirkel, Pinzetten und Bürsten. Nachschlagewerke, aus denen bunte Bänder hingen, türmten sich übereinander. Fotos und Zeichnungen quollen aus Aktenordnern. Der Boden war ein Wirrwarr aus Stapeln von Büchern und Papieren, die ständig umzustürzen drohten, es aber nicht taten, ein Labyrinth voller obskurem Wissen, in dem sich nur ein Mann zurechtfand.
Die Bücherregale, von denen sich einige in der Mitte unter der Last der Folianten durchbogen, dienten auch noch anderen Zwecken. Vor den Büchern, einige davon in Leder gebunden, andere neu, standen uralte, angeschlagene Statuen, daneben lagen Tonscherben, hauptsächlich etruskischer Herkunft, aber seltsamerweise keine unbeschädigten Stücke, dazu Werkzeuge aus der Eisen- und Schmuck aus der Bronzezeit, und dazwischen waren wie eigenartige Käfer Dutzende ägyptischer Skarabäen verstreut.
Nirgendwo im Raum war ein Staubkorn zu sehen, und es gab auch keine Fenster, durch die man auf das alte, in Massachusetts gelegene Dorf hinabblicken konnte. Das einzige Licht kam von den Lampen, und die Wände schluckten jedes Geräusch. Trotz der modernen Geräte, darunter ein kleiner Laptop, der unauffällig auf einem Beistelltisch stand, hatte der Raum etwas Zeitloses an sich, so als ob er im Universum schwebte, wenn man die Eichentür öffnete, die aus dem Studio führte, und die Dunkelheit und die Sterne über und unter einem sah.
An dem großen Schreibtisch saß Herod, der die Scherbe einer Tontafel vor sich liegen hatte. Er hatte eine Juwelierlupe vors Auge geklemmt und musterte ein Keilschriftzeichen, das in den Ton geritzt war. Die Sumerer waren es gewesen, die die Keilschrift erfunden und benutzt hatten, worauf sie wenig später von den benachbarten Stämmen übernommen worden war, vor allem von den Akkadern, einem Semitisch sprechenden Volk, das nördlich der Sumerer siedelte. Mit dem Aufstieg des akkadischen Reiches um 2300 vor Christus ging der Niedergang des Sumerischen einher, das schließlich zu einer toten Sprache und nur noch zu literarischen Zwecken gebraucht wurde, während Akkad noch zwei Jahrtausende lang in voller Blüte stand, bis es von den Babyloniern und Assyrern abgelöst wurde.
Neben den Schäden, die der Tontafel im Laufe der Zeit zugefügt worden waren, bestand die große Schwierigkeit, mit der sich Herod konfrontiert sah, wenn er die genaue Bedeutung des Logogramms feststellen wollte, im Unterschied zwischen dem Sumerischen und dem Akkadischen. Das Sumerische ist eine agglutinierende Sprache, das heißt, dass phonetisch gleichlautende Worte durch hinzugefügte Partikel ihre Bedeutung variieren. Das Akkadische hingegen ist flektierend, das heißt, ein Wortstamm wird abgewandelt, um Worte mit anderer, wenn auch verwandter Bedeutung zu schaffen, indem man ihn durch Vokale, Suffixe und Präfixe verändert. Deshalb haben sumerische Schriftzeichen, wenn sie im Akkadischen verwendet werden, nicht die gleiche Bedeutung, denn das gleiche Zeichen könnte, je nachdem, in welchem Zusammenhang es steht, etwas Unterschiedliches bedeuten, eine linguistische Eigenart, die man als Polyvalenz bezeichnet. Im Akkadischen benutzte man bestimmte Zeichen aufgrund des phonetischen Gewichts anstelle der
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