Die Bruderschaft der Runen
fortzusetzen.«
»Natürlich«, sagte der Abt und musterte ihn dabei mit einem durchdringenden Blick. »Unsere Bücherei steht Ihnen stets zur Verfügung, Master Quentin. Aber geht es Ihnen wirklich gut? Sie sehen so gehetzt aus …«
»Mir geht es gut«, versicherte Quentin ebenso rasch wie energisch, und obwohl ihm bewusst war, dass es grob unhöflich war, ließ er den Abt mit einem knappen Nicken stehen und eilte den Gang hinab Richtung Treppe.
»Leben Sie wohl, Master Quentin. Kommen Sie gut nach Hause«, rief Abt Andrew ihm hinterher.
Quentin hatte das Gefühl, dass der Blick des Ordensmannes auch dann noch auf ihm lastete, als er den Konvent längst verlassen hatte und er wieder in der Droschke nach Abbotsford saß.
5.
E rneut waren sie zusammengekommen, die Träger der dunklen Roben im Kreis der Steine.
Seit ihrer letzten Zusammenkunft hatte sich der Mond gefüllt. Als runde, fahle Scheibe stand er am nächtlichen Himmel und beschien mit seinem blassen Licht die schaurige Szenerie.
Wieder waren sie aufmarschiert, die Angehörigen der dunklen Bruderschaft, deren Wurzeln in ferner Vergangenheit lagen. Und wieder hatten sie sich um den steinernen Tisch versammelt, wo ihr Anführer stand, in schneeweißer Robe und von unirdischem Licht umgeben.
»Meine Brüder!«, erhob er die Stimme, nachdem der schaurige Gesang seiner Anhänger verstummt war. »Erneut haben wir zusammengefunden, und wieder ist der Tag der Erfüllung näher gerückt. Nicht mehr lange, und jene Konstellation wird eintreffen, auf die wir so lange gewartet haben.«
Die Vermummten schwiegen. Hass und Gier blickten aus den schmalen Schlitzen ihrer rußgeschwärzten Masken, und in ihren Seelen brannte eine Ungeduld, die vor hunderten von Jahren entzündet worden war. Vom Vater war sie auf den Sohn vererbt worden, über Generationen hinweg. Und mit jedem Jahrzehnt, das sie überdauert hatte, war sie noch drängender geworden.
»Unsere Feinde«, fuhr der Anführer mit lauter Stimme fort, »haben den Köder geschluckt. Sie glauben, gegen uns zu arbeiten, und wissen nicht, dass in Wahrheit wir es sind, die die Fäden ziehen. Ich habe die Runen befragt, meine Brüder, und sie haben mir die Antwort gegeben. Sie haben mir gesagt, dass es Ungläubige sein werden, die das Rätsel lösen werden.«
Unruhe kam unter den Sektierern auf, Unmutsäußerungen wurden laut.
»Aber«, fuhr ihr Anführer fort, »sie haben mir auch gesagt, dass wir es sind, die am Ende den Sieg davontragen werden. Die Ordnung wird untergehen, und das, was am Anfang war, wird auch am Ende triumphieren. Die alten Mächte werden zurückkehren und fortsetzen, was vor so langer Zeit unterbrochen wurde. Die Menschen werden nicht begreifen, was mit ihnen geschieht – sie sind wie Schafe auf den Weiden, die es nicht schert, welcher Schäfer sie hütet, solange sie saftiges Gras zu fressen haben. Aber wir, meine Brüder, werden diejenigen sein, die an der neuen Ordnung teilhaben und die alle Macht besitzen. Und niemand wird uns aufhalten, sei er nun von Adel oder gar ein König. Die Macht gehört uns, und keiner wird sie uns nehmen.«
»Die Macht gehört uns«, echote es aus den Reihen seiner Anhänger. »Keiner wird sie uns nehmen.«
»Wer glaubt, uns zu bekämpfen«, fügte ihr Anführer mit leisem Lachen hinzu, »wird am Ende unseren Sieg erst möglich machen. Dies prophezeie ich euch, so wahr ich das Oberhaupt dieser geheimen Bruderschaft bin. Nachdem es über Jahrhunderte hinweg verborgen war, ist das Geheimnis nun dabei, sich zu offenbaren. Der Zeitpunkt ist nicht mehr fern, meine Brüder. Der Tag steht bereits fest – und wenn sich der Mond in jener Nacht verfinstert, wird dies der Beginn eines neuen Zeitalters sein.«
6.
S ir Walter schwieg.
Im ledernen Ohrensessel des Arbeitszimmers hatte er den Bericht seines Neffen in aller Ruhe verfolgt. Er hatte zugehört, wie Quentin von der heimlichen Unterredung der Mönche berichtet hatte und von den seltsamen Dingen, die er aufgeschnappt hatte. Dabei hatte er weder Fragen gestellt noch ihn unterbrochen. Selbst jetzt, als Quentin mit seinem Bericht zu Ende war, sagte Sir Walter nichts.
Unbewegt saß er in seinem Sessel und schaute seinen Neffen an, obwohl Quentin nicht wirklich das Gefühl hatte, dass der Blick ihm galt. Vielmehr schien er geradewegs durch ihn hindurchzugehen und in weite Ferne zu reichen. Was Sir Walter dort sah, wollte Quentin lieber gar nicht wissen.
»Seltsam«, sagte Sir Walter nach langen Minuten des
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