Die Bruderschaft der Runen
Dingen einen Sinn zu geben, die ganz offensichtlich keinen hatten.
Welchen Zweck sollte Winstons grausamer Tod an der Brücke auch gehabt haben? Welchen Sinn hatte es, dass sie hier, am Ende der Welt, ausharren und einen Mann heiraten musste, den sie nicht liebte und der sie als Fremdkörper in seinem Leben betrachtete?
Mary schüttelte den Kopf. Sie war eine Romantikerin, die gern daran glauben wollte, dass Werte wie Ehre, Edelmut und Treue über die Vergangenheit hinaus existierten. Aber sie war nicht so töricht, Geschichten von Gespenstern und dunklen Flüchen nachzuhängen. Die abergläubische Alte mochte daran glauben – sie tat es nicht.
Die Frage war nur, überlegte Mary, weshalb die Furcht nicht verging, die sie tief in ihrem Innersten empfand.
4.
Q uentin Hay hatte kein gutes Gefühl dabei, den Abt eines Klosters zu belügen. Glücklicherweise hatte er es nicht selbst tun müssen.
In einem Brief hatte Sir Walter Abt Andrew gebeten, seinem Neffen Zugang zur klösterlichen Handbücherei zu verschaffen, da dringende Recherchen über die Geschichte der Abtei von Dryburgh zu erledigen seien, über die in Abbotsford nicht genügend Material vorliege. Und der Abt, offenbar froh darüber, dass Sir Walter seine Meinung geändert hatte und von seinem Ziel abließ, das Rätsel der Schwertrune zu lösen, hatte es gern gestattet.
So saß Quentin in der Bücherei, einem kleinen, weiß getünchten Raum, der nur ein Fenster besaß, durch das fahles Sonnenlicht einfiel. Die Wände ringsum wurden von Regalen gesäumt, in denen sich Bücher stapelten – religiöse Schriften zumeist, aber auch Abschriften der Chroniken von Dryburgh sowie Aufzeichnungen über Heil- und Kräuterkunde, wie sie im täglichen Klosterleben von Nutzen sein konnten. Auch die wenigen Bände, die nicht dem Brand zum Opfer gefallen waren, hatten in den Regalen der Handbücherei eine neue Heimat gefunden. Der bittere Geruch von Ruß und Feuer ging von ihren geschwärzten Umschlägen aus.
Sir Walters Neffe saß an dem grob gezimmerten Lesetisch, der in der Mitte des Raumes stand, und blätterte in einer Klosterchronik aus dem vierzehnten Jahrhundert. Das Latein zu übersetzen, in dem die Chronik verfasst war, bereitete ihm einige Mühe. Er war längst nicht so gut wie Jonathan, wenn es darum ging, alte Aufzeichnungen zu sichten und zu entziffern.
Natürlich hatte er nicht die Zeit, um alle Klosterchroniken zu lesen, die insgesamt zwei Regalreihen füllten. Sein Onkel hatte ihm genau eingeschärft, worauf er zu achten hatte: auf Hinweise auf die Schwertrune sowie auf Zusammenhänge mit einer heidnischen Sekte.
Wenn Abt Andrew tatsächlich mehr wusste, als er zugab, mochte das bedeuten, dass sowohl die Rune als auch die Sekte den Mönchen des Ordens schon früher begegnet waren. Und das wiederum konnte heißen, dass es irgendwo in den alten Aufzeichnungen einen Hinweis darauf gab. Zwar hatte Quentin eingewandt, dass die Mönche sicher nicht so töricht wären, die entsprechenden Seiten in den Abschriften zu belassen, wenn sie nicht wollten, dass jemand davon erfuhr, aber Sir Walter hatte erwidert, dass die Macht des Zufalls nicht zu unterschätzen sei und dass sie dem nach Wissen Dürstenden häufig zu Hilfe komme.
Ohnehin hätte es keinen Sinn gehabt, Sir Walter umstimmen zu wollen. Also hatte sich Quentin gefügt, und da saß er nun, Seite um Seite sichtend, ohne dass ihm einer der gesuchten Hinweise ins Auge stach.
Die Arbeit war ermüdend. Bald wusste Quentin nicht mehr zu sagen, wie lange er tatsächlich schon über der Chronik saß. Nur die sich ändernde Farbe des Sonnenlichts, das von draußen hereinfiel, sagte ihm, dass es schon etliche Stunden sein mussten.
Bisweilen fielen ihm, ohne dass er etwas dagegen unternehmen konnte, die Augen zu, und er fiel in einen kurzen, nur Minuten währenden Schlaf. Die Anstrengungen der letzten Nächte, in denen er sich mit den Dienern und dem Hausverwalter darin abgewechselt hatte, das Anwesen zu bewachen, machten sich bemerkbar. Und jedes Mal, wenn der Schlaf Quentin übermannte und er im Niemandsland zwischen Traum und Wachen schwebte, verließen seine Gedanken die Bibliothek und wanderten nach Norden, zu einer jungen Frau namens Mary of Egton.
Wie es ihr wohl ergehen mochte? Sicher war sie ihrem zukünftigen Ehemann inzwischen begegnet, einem reichen Laird, der ihr alles bieten würde, was einer Dame ihres Standes zukam. Mit großer Wahrscheinlichkeit würde Quentin sie niemals wieder
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