Die Bruderschaft der Runen
sehen – dabei hätte er sie so gern näher kennen gelernt, mit ihr gesprochen und ihr von Dingen erzählt, die nicht einmal sein Onkel wusste. Er konnte sich vorstellen, ihr alles anzuvertrauen und dabei Verständnis in ihren milden, freundlich blickenden Augen zu finden. Schon die Erinnerung an ihren zärtlichen Blick ließ ihn wohlig erschauern.
Mit dem Erwachen kam jedes Mal die Ernüchterung. Mary of Egton war fort, und sie würde nicht zurückkehren. Mit aller Härte schärfte sich Quentin das ein – um schon beim nächsten Minutenschlaf wieder in Schwärmerei zu geraten.
Wieder sah er sie vor sich, ihre anmutigen, von blondem Haar umrahmten Züge. Er beobachtete sie, wie sie im Bett lag und schlief, ein Engel, der vom Himmel herabgestiegen war, um ihn auf Erden zu besuchen. Wie sehr bedauerte er, nicht mehr mit ihr gesprochen, ihr nicht gesagt zu haben, was er für sie empfand …
Leise Stimmen holten Quentin aus dem Schlaf.
Er öffnete die Augen und brauchte einen Moment, um sich zu vergegenwärtigen, dass er sich nicht im Gästezimmer von Abbotsford, sondern in Abt Andrews Bücherei befand. Vor ihm lag auch nicht das anmutigste Wesen, das er je gesehen hatte, sondern eine jahrhundertealte, in Schweinsleder gebundene Handschrift.
Nur die Stimmen, die er in seinem Traum gehört hatte, waren wirklich gewesen. Sie kamen von nebenan, aus dem Arbeitszimmer des Abts.
Zuerst dachte sich Quentin nichts dabei. Es kam öfter vor, dass Abt Andrew in seinem Arbeitszimmer Besuch erhielt, gewöhnlich wenn seine Mitbrüder eine Arbeit beendet hatten oder wenn es Entscheidungen zu treffen galt, die seiner Zustimmung bedurften. Da die asketisch lebenden Mönche wortreiche Konversationen als überflüssig ansahen, wurden stets nur die nötigsten Informationen ausgetauscht, und die Gespräche waren demzufolge von kurzer Dauer.
Diesmal jedoch war es anders.
Zum einen dauerte das Gespräch bedeutend länger als sonst, zum anderen war zunächst in Zimmerlautstärke gesprochen worden, bis die Sprecher ihre Stimmen plötzlich gesenkt hatten. So, als gäbe es ein Geheimnis zu wahren, das nicht für fremde Ohren bestimmt war.
Quentin wurde neugierig.
Mit einem verstohlenen Blick zu der Tür, die die Bücherei von Abt Andrews Arbeitszimmer trennte, stand er auf. Die Bodendielen waren alt und morsch, sodass er sich vorsehen musste, sich nicht zu verraten, wenn er auf sie trat. Vorsichtig schlich er zur Tür, und obwohl er natürlich wusste, dass es sich nicht geziemte, ein fremdes Gespräch zu belauschen, beugte er sich vor und legte sein Ohr an das hölzerne Türblatt, um zu hören, was drinnen gesprochen wurde.
Er unterschied zwei Stimmen, die sich in gedämpftem Ton miteinander unterhielten. Die eine gehörte unverkennbar Abt Andrew, die andere vermochte Quentin nicht zuzuordnen; denkbar, dass sie einem der Mönche des Konvents gehörte. Quentin kannte die Ordensbrüder nicht gut genug, um es mit Sicherheit sagen zu können.
Zuerst konnte er kaum etwas verstehen. Dann, als er sich konzentrierte, schnappte er einzelne Wortfetzen auf. Und endlich vernahm er ganze Sätze …
»… noch keine Nachricht bekommen. Es besteht die Möglichkeit, dass sie sich bereits versammelt haben.«
»Das ist Besorgnis erregend«, entgegnete Abt Andrew. »Wir haben gewusst, dass dieser Zeitpunkt kommen würde. Aber nun, da er tatsächlich naht, wird mir angst und bang. Seit vielen Jahrhunderten trägt unser Orden diese Last, und ich gestehe, dass ich im Stillen oft gehadert habe, weshalb sie ausgerechnet uns anvertraut wurde.«
»Hadern Sie nicht, Vater. Wir dürfen nicht nachlassen. Nicht jetzt. Das Zeichen ist aufgetaucht. Das bedeutet, dass der Feind zurückgekehrt ist.«
»Und wenn wir uns irren? Wenn es nur ein Zufall war, dass der Junge das Zeichen gesehen hat? Wenn es in Wahrheit noch nicht reif war, entdeckt zu werden?«
Quentin erstarrte. Sprachen sie etwa von ihm?
»Die Dinge offenbaren sich, wenn der Zeitpunkt dafür gekommen ist, Vater. Haben Sie das nicht selbst immer wieder gesagt? Es kann keinen Zweifel geben. Nach so vielen Jahrhunderten ist das Zeichen zurückgekehrt. Das bedeutet, dass der Feind sich erneut formiert. Die letzte Schlacht steht bevor.«
Eine Weile lang war nichts mehr zu hören. Eine lange Pause trat ein, in der Quentin schon fürchtete, er könnte entdeckt worden sein.
»Du hast Recht«, ließ sich Abt Andrews leise Stimme endlich vernehmen. »Wir dürfen nicht zweifeln. Wir dürfen uns nicht
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