Die Bruderschaft der Runen
etwas darüber zu verraten – auch Ihnen nicht, Sir Walter. Jetzt verstehen Sie vielleicht mein Verhalten.«
Sir Walter nickte – offenbar hatte er das Problem tatsächlich unterschätzt. »Es tut mir Leid«, sagte er. »Ich wollte Sie nicht in eine Zwangslage bringen, Inspector. Aber meine Familie und mein Heim sind bedroht, und solange ich nicht weiß, aus welcher Richtung die Gefahr kommt, kann ich nichts gegen sie unternehmen.«
»Die Gefahr, Sir Walter, droht aus sämtlichen Richtungen. Denn wie wir erfahren haben, haben die Sektierer Sie zu ihrem Erzfeind erklärt.«
»Mich?« Der Herr von Abbotsford machte große Augen.
»Ja, Sir. Dies ist der Grund dafür, dass Ihr Student sterben musste. Und es ist auch der Grund, weshalb ich in Kelso bin, um die Ermittlungen zu leiten. Glauben Sie wirklich, man hätte einen Inspector aus London geschickt, wenn es – bitte verzeihen Sie mir – nur um einen gewöhnlichen Mordfall gegangen wäre?«
Sir Walter nickte. »Ich muss zugeben, dass ich mir diese Frage bereits gestellt habe.«
»Mit Recht, Sir. Der einzige Grund, weshalb ich geschickt wurde, ist der, dass diese Leute Ihnen nach dem Leben trachten und dass Sie am Hof und in Regierungskreisen einflussreiche Freunde haben. Man hat mich in diese entlegene Gegend gesandt, damit ich den Sektierern möglichst schnell das Handwerk lege. In der Wahl der Mittel hat man mir völlig freie Hand gelassen – und zwar Ihretwegen, Sir. Ich hatte den Auftrag, Sie und Ihre Familie um jeden Preis zu beschützen. Leider haben Sie mir meine Aufgabe nicht immer leicht gemacht – und leider habe ich sie nicht so erfüllt, wie man es von mir erwartet hat.«
»Meinetwegen?«, fragte Sir Walter entgeistert, der nicht so recht glauben konnte, dass es bei der Angelegenheit um seine Person gehen sollte. »Jonathan ist meinetwegen gestorben?«
»So ist die Taktik dieser Sektierer. Sie suchen sich ihre Opfer sehr sorgfältig aus. Dann legen sie ihnen die Schlinge um den Hals und ziehen ganz langsam zu. Der arme Jonathan war das erste Opfer. Sie, Master Quentin, hätten das nächste sein sollen. Und an der Brücke sollte es wohl Sir Walter selbst treffen. Nur einer glücklichen Fügung war es zu verdanken, dass es anders gekommen ist.«
»Einer glücklichen Fügung«, ächzte Sir Walter. »Ein Unbeteiligter ist ums Leben gekommen, und zwei junge Frauen wären um ein Haar verunglückt. Nennen Sie das eine glückliche Fügung?«
»In Anbetracht der Umstände, ja«, erwiderte Dellard hart. »Ich wusste die ganze Zeit über, in welcher Gefahr Sie schweben, deshalb wollte ich nicht, dass Sie auf eigene Faust ermitteln und sich und die Ihren dadurch noch mehr gefährden. Leider haben Sie nicht auf mich gehört, weshalb es in jener Nacht zu dem Überfall auf Ihr Anwesen gekommen ist. Meine Leute waren zum fraglichen Zeitpunkt in Selkirk, um einem Hinweis nachzugehen, den wir bekommen hatten. Rückblickend ist mir klar, dass es sich um ein Ablenkungsmanöver gehandelt hat. Daraus lässt sich erkennen, wie gerissen die Gegenseite arbeitet.«
»Ich verstehe«, sagte Sir Walter tonlos, dessen logisch arbeitender Verstand in diesem Augenblick zu pausieren schien. Es war sein Neffe, der trotz der Angst, die ihm die ganze Angelegenheit machte, einen berechtigten Einwand erhob.
»Eines verstehe ich nicht«, sagte er. »Weshalb sollten sich diese Sektierer meinen Onkel als Ziel aussuchen? Jeder kennt ihn und weiß, dass er sich für die Belange Schottlands einsetzt. Er ist ein ehrenwerter Patriot, der …«
»Ist Ihnen schon einmal der Gedanke gekommen, werter Master Quentin, dass nicht jeder Landsmann das so sehen könnte? Es gibt durchaus auch Stimmen, die behaupten, Ihr Onkel verbrüdere sich mit den Engländern und verrate Schottland an die Krone.«
»Aber das ist doch Unsinn.«
»Sagen Sie das nicht mir, junger Herr. Sagen Sie das diesen mordlustigen Eiferern. Die Sektierer sind allesamt Menschen, die mit dem Rücken zur Wand stehen und nichts zu verlieren haben. In ihrer Verzweiflung hängen sie einem Aberglauben nach und morden und brandschatzen im Zeichen einer alten Rune. Mit Argumenten und Erklärungen ist ihnen nicht beizukommen, nur mit der eisernen Hand des Gesetzes.«
»Aber wissen Sie denn nicht, was mein Onkel für unser Volk getan hat?«
»Die meisten dieser Leute können weder lesen noch schreiben, werter Master Hay. Sie sehen nur, was offensichtlich ist: dass Ihr Onkel bei den Engländern und insbesondere beim
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