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Die Bruderschaft der Runen

Titel: Die Bruderschaft der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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meinte der Gesetzeshüter und deutete nach oben, »haben wir uns ja geirrt. Vielleicht ist der arme Junge direkt von der Balustrade gestürzt.«
    »Von dort oben?« Sir Walter stieg die Stufen hinauf, die unter seinen Tritten leise knarrten. Langsam ging er an dem mit Schnitzereien verzierten Geländer entlang, bis er die Stelle erreicht hatte, unterhalb deren der Leichnam des Studenten lag. »Sie haben Recht, Sheriff«, stellte er nickend fest. »Von hier könnte Jonathan gestürzt sein. Die Blutspuren würden das bestätigen.«
    »Sehen Sie.« Erleichterung war in John Slocombes Gesicht zu erkennen.
    »Allerdings«, wandte Sir Walter ein, »wüsste ich nicht, wie Jonathan über die Balustrade gestürzt sein könnte. Wie Sie sehen, Sheriff, reicht mir das Geländer fast bis an die Brust, und ich wurde von meinem Schöpfer mit einer ansehnlichen Postur bedacht. Der arme Jonathan war einen Kopf kleiner als ich. Wie also könnte sich ein Unfall zugetragen haben, bei dem er kopfüber von der Balustrade gestürzt ist?«
    In den Zügen des Sheriffs begann es wieder zu arbeiten, seine Kiefer mahlten sichtbar. Er holte tief Luft, um zu antworten, besann sich dann aber anders. Leise vor sich hin murmelnd, kam er die Treppe herauf und gesellte sich zu Sir Walter, um in verschwörerischem Flüsterton mit ihm zu sprechen.
    »Ich hatte Ihnen nahe gelegt, dass Sie den Leichnam ruhen lassen sollen, Sir, und ich hatte meine Gründe dafür. Das Schicksal des armen Jungen ist so schon schlimm genug, nehmen Sie ihm nicht auch noch sein Seelenheil.«
    »Was wollen Sie damit sagen?«
    »Ich will damit sagen, Sir, dass Sie und ich sehr wohl wissen, dass der junge Herr Jonathan nicht von dieser Balustrade gestürzt sein kann, aber dass wir unser Wissen besser für uns behalten sollten. Sie sind darüber im Bilde«, sagte er mit einem Seitenblick auf Abt Andrew, der unten neben dem Leichnam stand und mit gesenktem Haupt betete, »was die Kirche jenen vorenthält, die das größte Geschenk des Schöpfers von sich weisen.«
    »Was meinen Sie damit?« Sir Walter blickte dem Sheriff prüfend in das vom Alkohol gerötete Gesicht. »Dass der arme Jonathan Selbstmord begangen haben soll?«
    Er hatte lauter gesprochen, als er beabsichtigt hatte, doch Abt Andrew schien ihn nicht gehört zu haben. Der Ordensmann stand weiter in demütiger Haltung und hielt Andacht für Jonathans Seele.
    »Ich wusste es von dem Augenblick an, als ich die Bibliothek betrat«, versetzte Slocombe, »aber ich behielt mein Wissen für mich, um dem Jungen ein anständiges Begräbnis zu ermöglichen. Denken Sie an seine Familie, Sir, an die Schande, die sie zu ertragen hätte. Zerstören Sie nicht das Andenken an Ihren Schüler, indem Sie eine Wahrheit ans Licht zerren, die besser verborgen bleiben sollte.«
    Walter Scott schaute dem Mann, der in der Grafschaft für die Durchsetzung des Rechts und die Wahrung der Ordnung verantwortlich war, tief in die Augen. Eine Zeitspanne, die John Slocombe wie eine Ewigkeit erschien, verstrich, ehe ein höfliches Lächeln über Sir Walters Miene glitt.
    »Sheriff«, sagte er leise. »Ich verstehe, was Sie mir sagen wollen, und ich schätze Ihre« – er legte eine kurze Pause ein – »Diskretion. Aber Jonathan Milton hat keinesfalls Selbstmord begangen. Das würde ich jederzeit beschwören.«
    »Wie können Sie sich da so sicher sein? Er verbrachte seine Zeit stets allein, oder nicht? Er hatte kaum Freunde, und soweit mir bekannt ist, wurde er auch nie mit einem Mädchen gesehen. Was wissen wir schon von den Dingen, die sich in einem kranken Geist abspielen?«
    »Jonathans Geist war nicht krank, Sheriff«, widersprach Sir Walter. »Er war im höchsten Maße wach und gesund. Ich habe selten zuvor einen Studenten erlebt, der die ihm gestellten Aufgaben mit mehr Eifer und größerer Begeisterung erledigt hätte. Sie wollen mir weismachen, er habe sich absichtlich über dieses Geländer gestürzt, um seinem Leben ein Ende zu setzen? Das hier ist eine Bibliothek, Sheriff. Jonathan hat für das Studium der Geschichte gelebt. Er wäre nicht dafür gestorben.«
    »Und wie erklären Sie sich dann, was geschehen ist? Sagten Sie nicht vorhin selbst, der Junge könne keinesfalls von der Treppe gestürzt sein?«
    »Sehr einfach, Sheriff. Dass Jonathan sich nicht selbst von der Balustrade gestürzt hat, muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass es nicht geschehen ist.«
    »Ich verstehe nicht …«
    »Wissen Sie, Sheriff«, sagte Sir Walter und

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