Die Bruderschaft der Runen
Möglicherweise …«
»Ja?«, fragte Sir Walter.
»Nichts.« Der Abt schüttelte den Kopf. »Es war nur ein Gedanke. Nichts von Bedeutung.«
»Halten Sie es für möglich, dass es ein Dieb gewesen ist? Jemand, der sich hier in der Bibliothek versteckt und Jonathan aufgelauert hat?«
»Kaum. Was sollte hier wohl gestohlen werden, mein Freund? Hier gibt es nichts als Staub und alte Bücher. Diebe und Räuber interessieren sich in unseren Tagen mehr für volle Mägen und gefüllte Geldbörsen.«
»Das ist wahr«, räumte Sir Walter ein. »Könnten Sie trotzdem überprüfen, ob etwas gestohlen wurde?«
Abt Andrew zögerte. »Das wird schwierig sein. Es sind längst nicht alle Schriften des Archivs katalogisiert. Die Unterstützung, die mir die Ordensgemeinschaft zukommen lässt, ist, unter uns gesprochen, ein wenig … karg. Unter diesen Umständen herauszufinden, ob etwas aus dem Bestand entwendet wurde, dürfte ziemlich unmöglich sein, zumal ich es nicht für sehr wahrscheinlich halte, dass einem Dieb an diesen alten Schriften gelegen ist.«
»Ich weiß Ihre Bemühungen dennoch zu schätzen«, versicherte Sir Walter. »Ich werde Ihnen Quentin schicken, damit er Ihren Mitbrüdern bei der Sichtung des Bestandes zur Hand geht. Und natürlich werde ich mich mit einer finanziellen Zuwendung bei Ihrer Gemeinschaft erkenntlich zeigen.«
»Wenn Ihnen so viel daran liegt …«
»Ich bitte darum. Ich werde erst dann wieder Ruhe finden, wenn ich weiß, weshalb Jonathan sterben musste.«
»Ich verstehe.« Der Mönch nickte. »Dennoch muss ich Sie warnen, Sir Walter.«
»Wovor?«
»Manche Geheimnisse bleiben besser im Schoß der Vergangenheit verborgen«, sagte der Abt rätselhaft. »Man sollte nicht versuchen, sie ihm zu entreißen.«
Sir Walter blickte Andrew prüfend an. »Nicht dieses Geheimnis«, sagte er dann und wandte sich zum Gehen. »Nicht dieses Geheimnis, mein werter Abt.«
»Was werden Sie jetzt tun, Sir?«, erkundigte sich Slocombe besorgt.
»Sehr einfach«, erwiderte Sir Walter entschlossen. »Ich werde sehen, was der Arzt zu sagen hat.«
3.
Schottisches Grenzland
Zur gleichen Zeit
K alter Wind strich über die Hügel der Highlands. Ein Teil der Erhebungen, die sich von Horizont zu Horizont erstreckten, hatte sich sanft den Naturgewalten gefügt, die ohne Unterlass an ihnen zehrten. Ein anderer Teil aber war im Lauf von Jahrmillionen von ihnen regelrecht bezwungen worden und fiel in rauen Klippen ab, an denen Wind und Regen nagten.
Gelbes Gras überzog die Landschaft, durchsetzt mit bunten Flecken von Heidekraut und Ginster, der über den schroffen Kalkstein rankte. Die Gipfel der Berge waren von Schnee bedeckt; in den Tälern lag Nebel und verlieh dem Land eine Aura von Unberührtheit. Ein schmaler, silbern schimmernder Fluss strömte in einen länglichen See, auf dessen glatter Oberfläche sich die majestätische Landschaft spiegelte. Darüber prangte der blaue, von Wolken durchsetzte Himmel.
Die Highlands schienen keine Zeit zu kennen.
Ein schneeweißes Pferd mit wehender Mähne und fliegendem Schweif jagte am Ufer des Sees dahin. Auf seinem Rücken saß eine junge Frau.
Es gab weder Sattel noch Zügel; die Frau, deren einziges Kleidungsstück ein schlichtes Hemd aus Leinen war, saß auf dem Rücken des Tieres und hatte die Hände in seine Mähne verkrallt. Obwohl die Hufe des Pferdes über den kargen Boden zu fliegen schienen, verspürte die Reiterin keine Furcht. Sie wusste, dass ihr nichts geschehen konnte, und setzte ihr ganzes Vertrauen in das kraftvolle Tier, dessen Muskeln sie unter dem schweißnassen Fell arbeiten fühlte. Das Tier sprengte einen sanften Hang hinauf und folgte der Hügelkette, die den See säumte.
Die Frau warf den Kopf zurück in den Nacken und ließ den Wind mit ihrem Haar spielen. Sie genoss die klare Luft; sie spürte weder die Kälte noch die Feuchtigkeit dieses schottischen Morgens und hatte das Gefühl, eins zu sein mit diesem Land.
Schließlich verlangsamte das Tier seinen Galopp und verfiel in langsamen Trab. Am Ende des Hügels, dort, wo der karge Boden den steten Kampf gegen die Kräfte von Regen und Wind verloren hatte und steil abfiel, hielt es an.
Die Frau hob den Blick, ließ ihn über die Hügel und Täler schweifen. Der würzige Duft von Moos und der herbe Geruch der Erde drangen in ihre Nase, sie hörte den leisen Gesang des Windes, der klang wie das Wehklagen um eine Welt, die längst verloren war, versunken im Nebel der Jahrhunderte.
Dies
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