Die Bruderschaft der Runen
Wache hielten, waren nicht auf ihrem Platz, was Gwynneth beunruhigte. Im Halbdunkel blickte sie sich um. Noch immer war der Gesang zu hören, sogar noch lauter und deutlicher als zuvor. Er kam aus dem Carcer, den finsteren Gewölben, die sich unter Burg Ruthven erstreckten.
Gwynn schauderte. Sie mochte den Carcer nicht, hatte ihn noch nie gemocht. Mitunter wurden Gefangene dort gehalten, und man erzählte sich, dass ihr Urgroßvater Argus Ruthven seine Feinde in den dunklen Kammern grausam zu Tode gefoltert habe. Über Jahre hinweg hatten die Gewölbe leer gestanden. Nun aber schienen sie wieder genutzt zu werden …
Trotz des Widerstandes, den sie in sich fühlte, bewegte sich Gwynn auf die Treppe zu und stieg langsam hinab. Der Gesang wurde noch lauter, und sie erkannte, dass es Worte in einer fremden Sprache waren – einer Sprache, die Gwynneth nicht verstand, aber deren Laute ihr kalte Schauer über den Rücken jagten, denn sie klangen kalt und zynisch. Und böse, wie die junge Frau fand.
Sie erreichte das Ende der Treppe. Vor ihr lag der schmale Korridor, auf den die vergitterten Zellen mündeten. Der Gesang kam vom Ende des Gangs, wo sich das Hauptgewölbe befand. Flackernder Feuerschein drang von dort bis zu ihr. Zögernd ging Gwynneth weiter.
Sie hielt sich eng an dem klammen, von Moos und Schimmel überzogenen Gestein, duckte sich in die Schatten, die das lodernde Feuer warf. Der Gesang schwoll an und erreichte einen schrecklichen Höhepunkt, dessen Dissonanz fast unerträglich war. Dann brach er ab, just in dem Moment, in dem Gwynneth das Ende des Korridors erreichte und einen Blick in den Hauptraum werfen konnte.
Der Anblick war entsetzlich. Gwynns Augen weiteten sich vor Schreck, und sie schlug die Hände vor den Mund, um nicht laut aufzuschreien und sich so zu verraten.
Das niedere Gewölbe, dessen Decke schwarz war vom Ruß, wurde von einem großen Feuer beleuchtet, das in der Mitte des Raumes entzündet worden war. Ringsum standen Gestalten, die schrecklich anzusehen waren – Männer in schwarzen Kapuzenmänteln, deren Gesichter grausam entstellt waren.
Für einen Augenblick dachte Gwynn, es handle sich um Dämonen, um Abkömmlinge der Finsterwelt, die gekommen waren, um sie alle ins Verderben zu reißen. Aber dann sah sie, dass die Augenpaare, die aus den dämonischen Gesichtern blickten, Menschen gehörten. Sie trugen hölzerne Masken, in die entsetzliche Fratzen geschnitzt waren und die man mit Ruß geschwärzt hatte, damit sie noch furchterregender wirkten.
Die Gestalten standen im weiten Kreis und schlossen nicht nur das Feuer ein, sondern eine weitere Gruppe von Männern, unter denen Gwynn zu ihrem Erschrecken Duncan erkannte, ihren eigenen Bruder.
Er war nackt. Soeben hatte er seine Kleider abgelegt, und einer der Vermummten, die ihn umstanden, nahm sie und warf sie ins Feuer. Daraufhin begann ein anderer, Duncans Körper in roter Farbe zu bemalen, mit seltsamen, verschnörkelten Symbolen.
Es waren Runenzeichen, aber sie waren anders als alle, die Gwynneth je gesehen hatte. Obwohl sie einige der alten Zeichen kannte, die vielerorts noch im Gebrauch waren, vermochte sie keines davon zu entziffern. Es musste sich um geheime Zeichen handeln. Um Runen, die verboten waren. Und jäh dämmerte Gwynn, dass es nicht Farbe war, mit der man den Körper ihres Bruders bemalte, sondern Blut …
Sie schauderte. Von Grauen gepackt sah sie zu, wie Duncans Arme, Beine, Rücken und Brust mit heidnischen Symbolen beschmiert wurden. Er selbst schien es nur am Rande wahrzunehmen. Die Arme ausgebreitet, stand er da und starrte vor sich hin, als wäre er nicht wirklich an diesem Ort. Dabei murmelte er lautlose Worte.
Gwynn spürte Furcht in ihrem Herzen, Angst um ihren Bruder. Alles in ihr drängte sie dazu, ihn herauszuholen aus dem Kreis der Vermummten, die Frevelhaftes im Schilde führten. Wie sehr er sich auch verändert haben mochte, Duncan war immer noch ihr Bruder, und sie war es nicht nur ihm, sondern auch ihrem Vater schuldig, dass sie ihn vor Schaden und Gefahr bewahrte.
Aber gerade in dem Augenblick, als sie vortreten und laut schreien wollte, geschah etwas: Die Vermummten, die ihren Bruder umlagert hatten, traten beiseite, und der Kordon der Zuschauer teilte sich. Eine weitere Gestalt trat auf, die ihre Züge hinter einer Maske verbarg. Im Unterschied zu den übrigen Anwesenden war ihre Kutte jedoch von strahlendem Weiß und die Maske aus glänzendem Silber. Obwohl sie noch nie zuvor in
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