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Die Bruderschaft der Runen

Titel: Die Bruderschaft der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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rasen – und schweißgebadet erwachte sie dann aus ihrem Traum …
    Mary of Egton zuckte zusammen.
    Jäh riss sie die Augen auf und wusste einen Augenblick lang nicht, wo sie sich befand. Ihr Herz schlug heftig, und sie hatte kalten Schweiß auf der Stirn. Ihre Hände und Füße waren eisig, und sie fröstelte.
    Während ihre Augen sich an das Halbdunkel gewöhnten, kehrte auch ihre Erinnerung zurück. Sie begriff, dass sie sich noch immer in der Turmkammer befand, in die sie sich vor Malcolm of Ruthvens frechem Begehren geflüchtet hatte. Sie zitterte am ganzen Körper, wenn sie an die albtraumhafte Flucht durch die Gänge der Burg dachte, an das viehische Schnauben ihres Verfolgers, und sie musste sich energisch sagen, dass sie in Sicherheit war, um wieder zur Ruhe zu kommen.
    Es war kein Wunder, dass sie fror. Nur mit ihrem Nachthemd und dem Morgenmantel bekleidet, kauerte sie auf dem kalten nackten Stein, während der eisige Nachtwind um den Westturm strich. Auf ihrem Schoß ruhten die Dokumente, die sie gefunden hatte: die Aufzeichnungen Gwynneth Ruthvens, die ein seltsames Schicksal ihr zugespielt hatte.
    Mary erinnerte sich, dass sie begonnen hatte, in den Schriften zu lesen, die eine Art Chronik, ein Tagebuch waren, in dem Gwynneth ihre Eindrücke und Erlebnisse, ihre Hoffnungen und Ängste festgehalten hatte – eine junge Frau in Marys Alter, die vor rund fünfhundert Jahren gelebt hatte. Mary war völlig gebannt gewesen und hatte trotz der Schwierigkeiten, die die Übersetzung des Lateinischen mit sich brachte, nicht aufhören können zu lesen. Irgendwann musste sie über der anstrengenden Lektüre eingeschlafen sein, und wie es aussah, hatten sich ihre Träume und das Gelesene einmal mehr zu einer wirren Vision verquickt.
    Inzwischen war die Dämmerung heraufgezogen, und der fahle Mondschein war grauem Zwielicht gewichen, das durch die niedere Fensteröffnung fiel.
    Mary erwog, das Turmzimmer zu verlassen und in ihre Kammer zurückzukehren, aber obwohl sie in der Morgenkälte, die durch die Ritzen und Fugen des Mauerwerks kroch, erbärmlich fror, entschied sie sich dagegen. Malcolm mochte noch draußen lauern. Es war sicherer zu warten, bis er zur Jagd ausgeritten war, wie er es fast jeden Morgen tat. Zudem verspürte Mary nicht das geringste Bedürfnis, zu ihrem heuchlerischen Verlobten und seiner gefühllosen Mutter zurückzukehren. Lieber blieb sie für immer hier oben im Turm und vertrieb sich die Zeit damit, Gwynneths Vermächtnis zu studieren.
    Kaum fiel ihr Blick auf die Zeilen, konnte sie nicht anders, als weiter darin zu lesen. Das Tagebuch der jungen Frau zog sie magisch an, gerade so, als wäre es nicht Gwynneth Ruthvens Schicksal, das auf den Pergamenten festgehalten war, sondern ihr eigenes …
    Gwynneth erwachte.
    Ihr Atem ging stoßweise, die langen Haare klebten schweißnass an ihrem Kopf. Irgendwann musste sie eingeschlafen sein, aber wieder hatte ein Albtraum sie heimgesucht. Eine Vision ferner Zeiten, verschwommener Bilder, die ihr Angst gemacht hatten.
    Gwynn schlug das Herz bis zum Hals, und sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Auf einmal wurde ihr bewusst, dass die Stimmen, die sie gehört hatte, kein Traum gewesen waren, sondern Wirklichkeit. Dumpfes, monotones Gemurmel, das durch die Mauern der Burg geisterte und bald hier, bald dort zu vernehmen war.
    Ihre Neugier war geweckt, und sie stieg aus dem Bett, um nachzusehen, woher die seltsamen Laute kämen. Das dünne Leinenhemd, das sie trug, bot keinen Schutz gegen die Kälte, und so griff sie zu der Decke aus dicht gewebter Schafswolle und warf sie sich über.
    Vorsichtig schlich sie hinaus auf den Gang. Die Tür ihrer Kammer quietschte und fiel hinter ihr ins Schloss. Flackernde Fackeln, die hier und dort in den Wandhalterungen steckten, waren die einzige Beleuchtung. Weit und breit war niemand zu sehen. Wo waren die Wachen?
    Gwynn zog die Decke noch enger um ihre Schultern und schlich lautlos den Gang hinab. Sie fröstelte – nicht so sehr wegen der grimmigen Kälte, an die sie gewohnt war, sondern wegen des Gesangs, der immer noch durch die Gänge kroch. Sie hörte nichts als ein dumpfes Brummen, das einer tristen Melodie folgte. Aber mit jedem Schritt, den sie tat, wurde der Gesang ein wenig lauter. Schließlich erreichte sie die Haupttreppe, die hinunter in die Eingangshalle führte. Leise stieg sie hinab, begleitet vom finsteren Gemurmel.
    Die Halle war menschenleer. Die Posten, die gewöhnlich vor dem Eingang

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