Die Bruderschaft der Runen
ahnt noch nicht einmal, wofür er missbraucht wird.«
»Dann muss ich es ihm sagen. Er muss all das erfahren, ehe es zu spät ist.«
»Es ist bereits zu spät, mein Kind. Weder würde er dir zuhören noch dir Glauben schenken. Duncan hat sich mit den falschen Mächten eingelassen. Er ist der dunklen Seite verfallen, trägt ihre Zeichen und ihren Umhang. Er hat seine Entscheidung getroffen, für ihn gibt es kein Zurück mehr.«
»Dann sollten wir William Wallace warnen. Er muss erfahren, was die Bruderschaft im Schilde führt. Er ist der Einzige, der mächtig genug ist, sie aufzuhalten.«
»Klug gesprochen, mein Kind«, lobte die Alte. »Endlich wissen wir, woher die Gefahr droht und was unser Feind im Schilde führt. Aber Wallace ist nicht nur für seine Tapferkeit bekannt, sondern auch für seinen Starrsinn. Glaubst du wirklich, er würde einer jungen Clansmaid und einem alten Runenweib vertrauen?«
»Dann werde ich mit Pater Dougal sprechen«, entschied Gwynneth. »Unsere Feinde sind auch seine Feinde, und dem Wort eines Kirchenmannes wird Braveheart mehr Vertrauen schenken.«
Kala lächelte geheimnisvoll. »Ich sehe«, sagte sie, »dass ich mich in dir nicht geirrt habe. Aber wir müssen vorsichtig sein. Unter den Masken der Runenbrüder sind die Gesichter von einflussreichen Männern verborgen, von Rittern und Clansherren. Wir können niemandem mehr trauen und sollten nicht …«
Plötzlich unterbrach sie sich und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die Tür der Kammer. Gwynn wandte sich um und hielt den Atem an, als auch sie den dunklen Schatten bemerkte, der durch den schmalen Spalt zwischen Boden und Türblatt zu sehen war.
Jemand stand vor der Tür …
Mary of Egton zuckte zusammen, als plötzlich jemand laut gegen die Tür der Turmkammer klopfte.
»Mary?«, rief eine Stimme energisch. »Kind, bist du da drin?« Jäh wurde Mary zurück in die Gegenwart gerissen. Die Stimme gehörte Eleonore of Ruthven.
Erneut klopfte es, noch energischer diesmal, und wieder ließ sich Eleonores schrilles, herrisch tönendes Organ vernehmen: »Sprich mit mir! Welchen Sinn soll es haben, sich einzusperren wie eine störrische Göre? Glaubst du, wir würden dich nicht finden, wenn du dich hier versteckst?«
Ohne dass Mary es gemerkt hatte, war inzwischen Tag geworden. Die Sonne war aufgegangen und schickte fahle Strahlen in die Turmkammer, und zum ersten Mal sah Mary den Ort ihres selbst gewählten Exils bei Licht. Die Pergamente mit den Aufzeichnungen Gwynneth Ruthvens lagen noch immer auf ihrem Schoß.
»Wenn du nicht öffnen willst, dann werde ich den Schmied holen und das Schloss aufbrechen lassen«, kündigte Eleonore an. »Glaubst du, du könntest uns mit solchen Kindereien entkommen?«
Unverhohlene Drohung schwang in ihren Worten mit. Marys zarter Körper zitterte, nicht vor Kälte, sondern vor Angst. Der Schrecken der vergangenen Nacht steckte ihr noch in den Knochen. Sie hatte gesehen, wozu ihr zukünftiger Ehemann in der Lage war, und wäre es nach ihr gegangen, hätte sie die Turmkammer, die schon vor einem halben Jahrtausend als Zuflucht gedient hatte, niemals mehr verlassen.
»Willst du uns lächerlich machen?«, fragte Eleonore scharf. »Willst du uns demütigen vor dem Gesinde und dem ganzen Haus?«
Mary antwortete noch immer nicht. Furcht schnürte ihr die Kehle zu. Selbst wenn sie gewillt gewesen wäre zu antworten, hätte sie es nicht gekonnt.
»Ganz wie du wünschst. Dann werde ich jetzt den Schmied rufen und ihn die Tür aufbrechen lassen. Aber erwarte weder Mitleid noch Nachsicht.«
Mary zuckte unter jedem Wort zusammen wie unter einem Peitschenhieb. Ihr Blick fiel auf die Schriftstücke, und ihr wurde klar, dass Eleonore sie auf keinen Fall finden durfte. Diese grässliche Frau hatte nicht davor zurückgeschreckt, Marys Bücher zu verbrennen. Sie würde ihr auch Gwynneths Tagebuch nehmen.
Rasch rollte Mary die Pergamente zusammen, steckte sie in den ledernen Köcher und schob ihn zurück in das Versteck in der Mauer. Anschließend verschloss sie die hohle Stelle wieder mit dem losen Stein, sodass sie kaum noch auszumachen war. Sodann überwand Mary ihre Scheu und eilte zur Tür. Langsam zog sie den Riegel zurück, öffnete die Tür einen Spalt und spähte mit einer Mischung aus Furcht und Argwohn hinaus.
Eleonore, die schon auf den Stufen gewesen war, wandte sich um. »Ach«, sagte sie mit hochmütig gewölbter Braue, »du hast dich also zur Vernunft entschlossen?«
»Es gibt
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