Die Bruderschaft der Runen
Befürchtungen gehabt. Die Ereignisse während der Reise – die Rettung an der Brücke und das unerwartete Zusammentreffen mit Walter Scott – hatten ihr Hoffnung gemacht, und eine Zeit lang hatte sie tatsächlich geglaubt, alles würde doch noch gut werden.
Welch eine Närrin sie gewesen war!
Dabei hätte sie die Zeichen nur zu deuten brauchen, um sich darüber klar zu werden, dass sie in Ruthven niemals, niemals glücklich werden könnte.
Zuerst waren es nur kleine Dinge gewesen, Bemerkungen und Zurechtweisungen, die noch nicht wirklich wehgetan hatten. Dann hatte man sie wegen ihrer Meinung zur Politik und wegen ihrer Haltung gegenüber den Bediensteten gerügt. Man hatte Kitty, ihre treue Zofe und Freundin, weggeschickt und ihr die Bücher genommen, die sie so sehr liebte. Und als wäre das alles noch nicht genug, hatte ihr zukünftiger Ehemann in der vergangenen Nacht auch noch versucht, sie zu vergewaltigen.
Wäre die unerschütterlich optimistische Kitty noch hier gewesen, hätte wohl auch sie zugeben müssen, dass es kaum noch schlimmer kommen konnte.
Mary war eine Gefangene. Festgesetzt in einer Zwingburg, ohne Kontakt zur Außenwelt und den wenigen Dingen, die ihr Freude bereiteten. Ihr zukünftiger Mann, den sie weder liebte noch achtete, war ein Scheusal, und das einzige Interesse seiner Mutter schien darin zu liegen, Marys Freigeist zu zähmen und ihren Willen zu brechen. Beide waren nur darauf bedacht, den Ruf und die Traditionen des Hauses Ruthven zu wahren, und Mary dämmerte die Einsicht, dass sie sowohl Malcolm als auch seiner Mutter völlig gleichgültig war. Sie war nichts als ein Mittel zum Zweck, ein notwendiges Übel, das in Kauf genommen werden musste, sollte es einen Erben geben, der die Familientradition fortführen konnte.
In einer Welt, die von Geldgier und Machtkalkül bestimmt wurde, war kein Platz für Träume und Hoffnungen, und Mary begriff, dass auch ihre Träume und Hoffnungen hier nicht überleben würden. Erneut traten ihr Tränen in die Augen und rannen über die zarten Wangen. Das Atmen fiel ihr schwer, weil Verzweiflung ihr die Brust zuschnürte.
So kauerte sie eine endlos scheinende Weile am Boden, elend und verzweifelt. Bis sie sich irgendwann an die Aufzeichnungen Gwynneth Ruthvens erinnerte. War es der jungen Frau nicht ähnlich ergangen? War nicht auch sie eine Gefangene gewesen, eine Fremde unter Menschen, die ihr hätten nahe stehen sollen?
Der Gedanke gab Mary neuen Mut. Energisch wischte sie die Tränen beiseite, nahm den losen Stein aus der Mauer und holte den Köcher mit der Schriftrolle hervor.
Und weil es das Einzige war, das sie von ihrer trostlosen Lage ablenken konnte, begann sie erneut zu lesen und versenkte sich in das Vermächtnis Gwynneth Ruthvens, die vor über fünfhundert Jahren gelebt hatte.
Hier, an diesem Ort …
4.
D ie Abtei von Dunfermline war um das Jahr 1070 gegründet worden. Im Auftrag von Königin Margaret hatten Benediktinermönche eine Priorei errichtet, die 1128 den Status einer Abtei erhalten und bis ins Hochmittelalter hinein als Stätte des Glaubens, der Bildung und der Kultur gewirkt hatte.
Der Westteil der großen, aus hellem Sandstein erbauten Kirche hatte sich bis in Walter Scotts Tage erhalten, während der Ostflügel im Zuge der mittelalterlichen Kriegswirren zerstört worden war. Erst vor wenigen Jahren hatte man damit begonnen, ihn wieder aufzubauen. Der Architekt William Burns, der ein persönlicher Bekannter Sir Walters war, hatte den Auftrag erhalten, den Kirchenbau nach alten Vorgaben zu vervollständigen – eine Arbeit, die insgesamt drei Jahre in Anspruch genommen und erst vor wenigen Monaten zu Ende gebracht worden war. Im Zuge dieser Bauarbeiten war in einer lange verschütteten Kammer das Grab König Roberts I. von Schottland entdeckt worden, der als Robert the Bruce in die Geschichte eingegangen war.
»Wie eindrucksvoll«, sagte Quentin, als er zum neu errichteten Kirchturm hinaufblickte, einem trutzigen, rechteckigen Bau, der von einer steinernen Balustrade gekrönt wurde. Der Schriftzug KING ROBERT THE BRUCE war darin eingemeißelt, sodass weithin zu lesen war, wessen sterbliche Überreste die Abtei von Dunfermline barg.
»Nicht wahr?« Sir Walter nickte. »An Stätten wie dieser ist die Vergangenheit lebendig, mein Junge. Und vielleicht ist sie ja gewillt, uns das eine oder andere Geheimnis preiszugeben.«
Sie betraten die Kirche nicht durch den Fronteingang, sondern durch das Seitenschiff,
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