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Die Bruderschaft der Runen

Titel: Die Bruderschaft der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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selbst erlebt zu haben. War sie eingeschlafen und hatte das alles nur geträumt? Mary konnte sich nicht erinnern, aber so musste es wohl sein. Vertieft in das Studium der alten Schrift, hatte sie ihre Müdigkeit gar nicht bemerkt, bis ihr schließlich die Augen zugefallen waren. Und einmal mehr hatten sich Gegenwart und Vergangenheit in ihrem Traum auf beunruhigende Weise vermischt.
    Schaudernd musste Mary an die Hand denken, die sie aus dem Traum gerissen hatte. Sie hatte sie auf ihrer Schulter gefühlt. Hätte Mary nicht mit dem Rücken zur Wand gesessen, sie hätte sich umgewandt, um ganz sicherzugehen, dass nicht doch jemand hinter ihr war.
    Nur ein Traum … oder doch mehr als das?
    Erneut musste Mary an die Worte der Dienerin denken, und sie fragte sich, ob die seltsame alte Frau vielleicht doch Recht gehabt hatte. Gab es tatsächlich etwas, das Gwynneth Ruthven und sie miteinander verband? Etwas, das ihre Schicksale verknüpfte, über die Jahrhunderte hinweg?
    Marys Verstand weigerte sich, an Derartiges zu glauben, aber wie sollte sie sich all das sonst erklären? Wie, dass sie mit Gwynneth litt, als wäre sie eine teure Freundin, die sie von Kindesbeinen an kannte? Wie, dass sie den Eindruck hatte, in jenen düsteren Tagen selbst dabei gewesen zu sein?
    Sie musste mehr über Gwynneth Ruthven und die Ereignisse herausfinden, die sich damals auf Burg Ruthven zugetragen hatten. Obwohl ein Teil von ihr sich davor scheute, begann Mary erneut zu lesen, und schon nach wenigen Zeilen hatte Gwynneths Bericht sie wieder ganz in den Bann geschlagen …
    Mit einem scharfen Atemzug wandte sich Gwynneth Ruthven um – und blickte in die faltigen Gesichtszüge einer alten Frau. Erleichtert stellte sie fest, dass es Kala war. Das Runenweib legte den Zeigefinger auf den Mund und bedeutete ihr zu schweigen. Dann nahm sie Gwynneth an der Hand und zog sie davon, über die Treppe nach oben, weg von den Sektierern, deren monotones Gemurmel hinter ihnen verklang.
    Sie erreichten die Eingangshalle, und mit einer Behändigkeit, die man ihr nicht zugetraut hätte, huschte die alte Frau die Stufen zum Burgfried hinauf. Zu Gwynneths Verblüffung schien sich Kala in Burg Ruthven gut auszukennen. Sie hatte keine Mühe, einen Weg durch die spärlich beleuchteten Gänge zu finden, und schien ihr Ziel genau zu kennen.
    Endlich erreichten sie die Treppe, die in steilen Windungen hinauf zum Westturm führte, und Kala bedeutete Gwynn, ihr zu folgen. Verstohlen blickte sich die junge Frau um, ehe sie hinter der Alten durch die Tür schlüpfte und nach oben stieg.
    Im Turm war es kalt und zugig. Wind blies durch die hohen Fensterschlitze, und Gwynneth fröstelte, als ihre nackten Füße über den klammen Stein nach oben stiegen. Im fahlen Mondlicht konnte sie Kala als dunklen Schatten vor sich sehen. Während Gwynns Pulsschlag schneller ging, schien der alten Frau der Aufstieg keine Mühe zu bereiten. Mit jugendlichem Schwung huschte sie hinauf, und schon kurz darauf standen sie vor der Tür der Turmkammer.
    Zu Gwynneths Überraschung besaß Kala den Schlüssel. Sie öffnete die Tür und ließ Gwynn eintreten. Im Innern war es staubig und dunkel, bis auf das Mondlicht, das durch das niedere Fenster fiel.
    »Setz dich«, forderte Kala Gwynn auf, und da es weder einen Stuhl noch eine Bank gab, nahm die junge Frau auf dem Boden Platz. Auch Kala ließ sich ächzend auf den Boden sinken, jetzt wieder ganz die greise Frau. »Und?«, fragte sie, ohne sich lange mit Erklärungen aufzuhalten. »Verstehst du jetzt, wovon ich sprach, als wir uns in der Schlucht begegneten?«
    Gwynn nickte. »Ich glaube, ja. Nur habe ich längst nicht alles verstanden, was …«
    »Mehr brauchst du nicht zu wissen«, fiel Kala ihr ins Wort, um dann sanfter hinzuzufügen: »Es ist nicht gut, zu viel über diese Dinge in Erfahrung zu bringen, mein Kind. Zu viel Wissen schadet nur, sieh mich an. Alt geworden bin ich und gebeugt unter der Last des Wissens. Für dich genügt es, wenn du weißt, dass jene Vermummten es nicht mit den weißen Künsten halten, sondern mit der anderen, der dunklen Seite, die sich der verbotenen Runen bedient.«
    »Ich verstehe«, sagte Gwynn und wagte nicht, weiter nachzufragen.
    »Diese Kammer«, sagte Kala und machte eine ausholende Handbewegung, »ist der letzte und einzige Ort dieser Burg, der noch nicht durchdrungen ist von der Macht des Bösen. Er ist am weitesten entfernt von der Stätte des düsteren Wirkens, tief unten im Fundament der

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