Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Bruderschaft der Runen

Titel: Die Bruderschaft der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
Vom Netzwerk:
nicht. Er brach mit der Tradition der alten Zeit und wandte sich anderen Sitten und Gebräuchen zu. Das war der Anfang vom Ende.«
    »Wenn du meinst …« Peinlich berührt blickte Mary sich um. Es war offensichtlich, dass der Alte zu viel getrunken hatte und ihm der Alkohol zu Kopf gestiegen war. An Kittys und Winstons Blicken konnte sie sehen, dass die beiden keinen Pfifferling auf das gaben, was der Mann sagte. Mary hingegen fühlte sich betroffen, auch wenn sie nicht hätte sagen können, woran das lag.
    Vielleicht an dem Alten selbst, der ihr so fremd und gleichzeitig so vertraut erschien. Vielleicht auch an dem, was er erzählte, wenngleich sich Mary keinen Reim darauf machen konnte.
    »Das Schwert ging verloren«, murmelte der Alte, »und mit ihm unsere Freiheit.«
    »In Ordnung, Alter«, sagte der Schankwirt, der herbeikam, um den Tisch abzuräumen. »Du hast die Lady lange genug belästigt. Jetzt ist es Zeit, nach Hause zu gehen. Es ist Sperrstunde, und ich will heute nicht nochmal Ärger mit den Roten kriegen.«
    »Ich geh schon«, versicherte der Alte. »Lassen Sie mich nur noch einmal in Ihre Augen blicken, Mylady. Ich kann darin etwas erkennen, das ich lange nicht mehr gesehen habe.«
    »Und das wäre?«, fragte Mary ein wenig belustigt.
    »Güte«, erwiderte der Alte ernst. »Mut und Wahrhaftigkeit. Dinge, die ich verloren glaubte. Es ist schön, sie noch einmal gesehen zu haben. Ich bin froh, Sie getroffen zu haben, Mylady.«
    Für einen kurzen Moment glaubte Mary, in den Augen des Alten etwas feucht schimmern zu sehen. Dann erhob sich der Schotte und wandte sich zum Gehen. Er verließ das Lokal zusammen mit den anderen Gästen, die der Wirt mit sanfter Gewalt hinausbugsierte.
    Verblüfft sah Mary ihnen hinterher. Die letzten Worte des alten Schotten wollten ihr nicht aus dem Kopf.
    Güte, Mut und Wahrhaftigkeit. Dinge, die ich verloren glaubte …
    Der alte Mann hatte genau das ausgesprochen, was auch sie empfand. Er hatte ihre innersten Gedanken in Worte gefasst, so als könnte er bis auf den Grund ihrer Seele schauen. Als kennte er sie seit Jahren. Als wüsste er um ihre geheimen Wünsche und Sehnsüchte und teilte sie …
    »Ein seltsamer Kauz, wenn Sie mich fragen, Mylady«, sagte Winston.
    »Ich weiß nicht.« Kitty zuckte mit den Schultern. »Ich fand ihn ganz nett.«
    »Es war ganz seltsam«, sagte Mary. »Ich weiß, es klingt verrückt, aber ich hatte das Gefühl, diesen Mann zu kennen.«
    »Kaum, Mylady.« Winston schüttelte den Kopf. »Ein armer Teufel wie er dürfte noch nie aus seinem Dorf hinausgekommen sein. Und Sie wiederum sind noch nie zuvor hier gewesen.«
    »So meinte ich es auch nicht. Es war anders. Eine Art von Vertrautheit, wie ich sie selten zuvor …«
    Mary unterbrach sich.
    Sie durfte ihr innerstes Seelenleben nicht vor ihren Dienstboten ausbreiten, so vertraut sie ihr auch sein mochten. Was zwischen ihr und dem alten Grenzländer gewesen war, wusste sie nicht einmal selbst zu deuten. Aber es war offenkundig, dass seine Worte sie berührt hatten. Seine Trauer um das alte Schottland, das für immer verloren war, hatte sie betroffen gemacht, gerade so, als hätte auch sie etwas Wichtiges verloren. Eine Zeit der Romantik und der Wahrhaftigkeit …
    Der Gedanke ließ Mary nicht los.
    Und später, als sie in ihrer Kammer im Bett lag, unter der schweren, mit Daunen gefüllten Decke, die hohen Gästen vorbehalten war, fragte sie sich, wie es gewesen sein musste.
    Damals, vor fünfhundert Jahren …
    Früh am nächsten Morgen brachen sie auf. Beim ersten Sonnenstrahl hatte Winston die Pferde angeschirrt. Während Kitty ihrer Herrin bei der Morgentoilette und beim Ankleiden half, verlud der Diener die Koffer auf den breiten Gepäckträger, der am Heck der Kutsche montiert war.
    Im Schankraum des Wirtshauses, in dem es noch immer nach Schweiß und Ale roch, nahm die kleine Reisegesellschaft ein karges, aber kräftigendes Frühstück ein, das aus einem zähflüssigen Getreidebrei bestand. Winston wollte protestieren, dass eine englische Lady wohl etwas Besseres zu erwarten hätte, doch Mary hielt ihn zurück.
    Sie wollte nicht unhöflich wirken; die Begegnung mit dem alten Schotten am Abend hatte einen tiefen Eindruck auf sie gemacht, und im Ansatz erahnte sie, welcher Stolz und welches Traditionsbewusstsein diese einfachen Menschen erfüllten. Auch sie bekamen zum Frühstück nicht mehr zu essen als Getreidebrei, also wollte Mary gern damit vorlieb nehmen. Eine seltsame

Weitere Kostenlose Bücher