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Die Bruderschaft der Runen

Titel: Die Bruderschaft der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Sympathie verband sie mit den Bewohnern dieses Landes, die sie sich selbst nicht recht erklären konnte.
    In der Nacht hatte sie erneut geträumt; wieder hatte sie die junge Frau gesehen, die auf dem schneeweißen Pferd durch die Highlands ritt – Highlands, die Mary nur von Gemälden her kannte und die in ihren Träumen so greifbar waren, als wäre sie selbst schon dort gewesen. Danach konnte sich Mary nur an verschwommene Eindrücke und ferne Bilder erinnern. Eine Burg, von deren Zinnen eine junge Frau geblickt hatte, ein Schwert, das inmitten eines Schlachtfelds im Boden steckte.
    Es musste an den Worten des alten Schotten liegen, die Mary bis in den Schlaf verfolgt hatten.
    Nach dem Frühstück verließen die Reisenden das Jedburgh Inn. Die Sonne war bereits über die derben, mit Stroh gedeckten Häuser gestiegen, der Himmel zartrosa verfärbt.
    »Morgenrot«, kommentierte Winston missmutig, während er den Damen beim Einsteigen in die Kutsche half. »Es wird regnen, Mylady. Es sieht nicht so aus, als bereitete dieses verdammte Land Ihnen einen warmen Empfang.«
    »Geregnet hat es zu Hause auch, Winston«, sagte Mary achselzuckend. »Ich verstehe deine Abneigung nicht.«
    »Verzeihen Sie, Mylady. Es muss an dieser Gegend liegen. Sie ist leer und trostlos, und die Bewohner sind nichts als ungebildete Bauern.«
    Mary, die gerade dabei gewesen war, in die Kutsche zu steigen, hielt auf der Stiege inne und sandte ihrem Bediensteten einen tadelnden Blick. »Für einen Kutscher hast du eine sehr hohe Meinung von dir, mein guter Winston.«
    »Verzeihen Sie, Mylady. Ich wollte nicht herablassend klingen«, entschuldigte sich der Diener, doch der Hochmut in seinen Zügen strafte seine Worte Lügen.
    Mary kletterte in die Kutsche und nahm Platz. Sie konnte es den Schotten nicht verdenken, wenn sie die Engländer nicht leiden konnten. Sogar englische Diener schienen auf die Bewohner dieses Landes herabzublicken und hielten sie für ungeschickte Tölpel.
    Mary aber war anderer Ansicht. Durch die Romane Walter Scotts, die sie gelesen hatte, hatte sie vom Land jenseits der Grenzen eine andere Meinung bekommen. Was die einen für einen öden Landstrich hielten, in dem es weder Kultur noch gute Sitten gab, war für sie nun einer der wenigen Orte, an denen Begriffe wie Ehre und Edelmut noch nicht ausgestorben waren.
    Für die meisten jungen Adeligen in ihrem Alter war Tradition nicht mehr als ein leeres Wort, eine Phrase, mit der man seinen Reichtum zu legitimieren suchte, während andere kaum genug zu essen hatten; hier im Norden hatte das Wort noch eine Bedeutung. Hier lebte man mit der Vergangenheit und war stolz darauf. In den Augen des Alten hatte Mary diesen Stolz deutlich gesehen.
    Während sich die Kutsche in Bewegung setzte und Kitty sich unaufhörlich darüber beschwerte, dass sie auf ihrem kargen Lager schlecht geschlafen habe und ihr Rücken sie quäle, kreisten Marys Gedanken wieder um das, was der kauzige Alte gesagt hatte.
    Was hatte er damit gemeint, als er von Verrat gesprochen hatte? Welche alten Traditionen waren auf dem Schlachtfeld von Bannockburn preisgegeben worden? Dem Schotten schien es bitterernst gewesen zu sein, auch wenn seine Zunge vom Ale schwer gewesen war. Mary spürte, dass ihre zukünftige Heimat ein Land voller Rätsel und Widersprüche war.
    Gedankenverloren blickte sie zum Seitenfenster der Kutsche hinaus, sah die Gebäude Jedburghs vorbeiziehen, die Läden der Händler und die Werkstätten der Handwerker. Ein paar Hühner und ein Schwein tummelten sich auf der Straße und stoben entsetzt zur Seite, als sich die Kutsche näherte.
    Zu dieser frühen Stunde war kaum jemand auf den Straßen unterwegs, nur ein paar Frauen, die mit Handkarren zum Markt zogen. Kurz darauf erreichte die Kutsche den Marktplatz – eine freie Fläche, die fünfzig Yards im Quadrat maß und von zweistöckigen Häusern umgeben wurde, unter ihnen ein Handelskontor und das Haus des örtlichen Sheriffs.
    Am östlichen Ende des Platzes hatten einige Marktweiber ihre Stände und Buden errichtet und boten das Wenige zum Kauf, das ihre Männer dem kargen Boden abrangen. Mary jedoch hatte kein Auge für sie. Ihre ganze Aufmerksamkeit gehörte dem Schafott, das in der Mitte des Platzes errichtet worden war.
    Es war ein aus grobem Holz gezimmertes Podest, auf dem sich mehrere Galgen erhoben. In den Schlingen hingen zu Marys Entsetzen fünf Männer.
    Im Morgengrauen hatte man sie hingerichtet. Soldaten, deren rote Uniformröcke

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