Die Bruderschaft der Runen
geschnitzt, das kann ich spüren.«
»Täusche dich nicht«, erwiderte Mary. »Ich bin von Adel, genau wie die anderen Engländer, von denen du sprichst.«
»Aber Sie sehen uns nicht gleich als Barbaren, die man kultivieren muss«, sagte der alte Schotte und blickte sie dabei bedeutungsvoll an. »Sie sehen uns als Menschen. Sonst wären Sie nicht dazwischengegangen, als diese gemeinen Verräter über den armen Allan Buchanan hergefallen sind.«
»Ich habe nur getan, was meine Pflicht war«, erwiderte Mary bescheiden.
»Sie haben mehr als das getan. Sie waren sehr mutig und haben für uns Partei ergriffen. Diese Jungs dort« – er deutete zu den Nachbartischen, an denen junge Schotten saßen, die immer wieder verstohlen herüberblickten – »werden Ihnen das nie vergessen.«
»Schon gut. Es war nichts Besonderes.«
»Für Sie vielleicht nicht, Mylady, aber für uns schon. Wenn man Angehöriger eines Volkes ist, das von den Briten und den Landlords unterdrückt und ausgebeutet wird, das von seinem Land vertrieben wird, nur dass andere noch mehr Gewinn machen können, dann lernt man, Freundlichkeit zu schätzen.«
»Sie sprechen von den Clearances , nicht wahr?«, erkundigte sich Mary. Sie hatte von den gewaltsamen Umsiedlungen gehört, die von den Landlords betrieben wurden und es zum Ziel hatten, die Wirtschaft der Highlands umzustrukturieren. Anstelle des Ackerbaus, der bislang dort betrieben worden war und nur kargen Gewinn abgeworfen hatte, sollte die Schafzucht die wirtschaftliche Zukunft Schottlands sein. Doch dafür war es notwendig, dass die Bewohner des Hochlands aus ihren angestammten Gebieten an die Küsten umgesiedelt wurden. Der Adel im Süden erachtete diese Maßnahmen als notwendig, um aus dem Norden des Königreichs endlich eine zivilisierte, prosperierende Gegend zu machen. Aus der Sicht der Einheimischen stellte sich das freilich anders dar …
»Es ist eine Schande«, sagte der alte Schotte. »Über Generationen hinweg haben unsere Väter dafür gekämpft, dass Schottland frei sein soll von diesen verdammten Engländern – und nun werden wir von dem Land vertrieben, das wir seit Jahrhunderten bewohnen.«
»Das tut mir sehr Leid«, sagte Mary, und es klang ehrlich. Obwohl sie auf den ersten Blick nichts mit diesen Menschen verband, fühlte sie sich ihnen doch auf seltsame Weise nahe. Vielleicht, weil sie ein gemeinsames Schicksal teilten – auch Mary fühlte sich aus ihrer Heimat vertrieben, würde den Rest des Lebens an einem Ort verbringen müssen, der ihr fremd war und an dem sie nicht leben wollte. Vielleicht, so dachte sie, hatte sie mehr mit diesen Menschen gemeinsam, als ihr bislang klar gewesen war.
»Fünfhundert Jahre«, murmelte der alte Schotte vor sich hin. »Fünfhundert verdammte Jahre. Wussten Sie das?«
»Wovon sprichst du?«
»Es war 1314, als sich Robert the Bruce auf dem Schlachtfeld von Bannockburn den Engländern stellte. Die vereinten Clans zogen den Briten das Fell über die Ohren, und Robert wurde König eines freien Schottlands. Vor mehr als fünfhundert Jahren«, fügte der Alte mit geheimnisvollem Flüstern hinzu.
»Das wusste ich nicht«, gestand Mary. »Ich weiß überhaupt sehr wenig über die Highlands. Aber dagegen werde ich etwas unternehmen.«
»Ja, tun Sie das, Mylady«, fuhr der Alte fort und beugte sich so dicht zu ihr hinüber, dass sie den strengen Geruch seiner Lederweste und seinen von Tabak und Bier bitteren Atem riechen konnte. »Es ist immer gut, die Vergangenheit zu kennen. Man darf sie niemals vergessen. Niemals, hören Sie?«
»Bestimmt nicht«, versicherte Mary ein wenig eingeschüchtert. Die Züge des alten Schotten hatten sich verändert, sie wirkten nicht mehr so gütig und weise wie zuvor, sondern fanatisch, gehetzt. In seinen eben noch so milden Blicken schien jetzt ein wildes Feuer zu lodern.
»Wir haben den Fehler gemacht, die Vergangenheit zu vergessen«, flüsterte der Alte ihr zu, wobei seine Stimme einen beschwörenden Tonfall annahm. »Wir haben die Traditionen unserer Ahnen verraten und wurden dafür fürchterlich bestraft. Robert selbst war es, der den ersten Schritt machte. Er brach mit den Traditionen, beging den Fehler, mit dem alles Übel begann.«
»Welchen Fehler?«, fragte Mary verwundert. »Wovon redest du?«
»Ich spreche vom Schwert des Königs«, sagte der alte Schotte geheimnisvoll. »Vom Schwert, das auf dem Schlachtfeld von Bannockburn zurückblieb. Es hatte den Sieg errungen, doch Robert achtete es
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