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Die Bruderschaft der Runen

Titel: Die Bruderschaft der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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die einzigen Farbtupfer vor dem tristen Grau der Häuser waren, hielten vor den Galgen Wache.
    »Wie entsetzlich«, rief Kitty aus und schlug sich die Hände vors Gesicht.
    Auch wenn Marys Innerstes sich vor Abscheu verkrampfte und der Anblick der fünf Toten, die starr und leblos an ihren Stricken hingen, Übelkeit in ihr emporsteigen ließ – sie konnte nicht anders, sie musste hinsehen. Und zu ihrem Entsetzen stellte sie fest, dass sie einen der Toten kannte.
    Da man darauf verzichtet hatte, Säcke über die Köpfe der Verurteilten zu ziehen, sah sie im Vorbeifahren die Gesichter der Toten. Und in einem von ihnen erkannte Mary den alten Schotten, der sie im Jedburgh Inn angesprochen hatte, der ihr von Robert the Bruce und der Schlacht von Bannockburn erzählt hatte, davon, wie die Tradition des schottischen Volkes verraten worden war.
    Seine letzten Worte kamen ihr in den Sinn. Er hatte sich von ihr verabschiedet. Irgendwie schien er geahnt zu haben, dass er den Morgen nicht erleben würde.
    Mary schloss die Augen, spürte Trauer und Zorn zugleich. Sie hatte mit dem Alten gesprochen, hatte ihm in die Augen gesehen. Sie wusste, dass er kein schlechter Mensch gewesen war, kein Verbrecher, der es verdiente, auf dem Marktplatz gehängt und öffentlich zur Schau gestellt zu werden. In diesem Land allerdings, das begann Mary allmählich zu begreifen, galten andere Regeln.
    Einer der Soldaten, die vor dem Schafott Wache hielten, blickte zur Kutsche herüber. Voller Entsetzen sah Mary, dass es der junge Corporal war, den sie vor dem Gasthof zurechtgewiesen hatte. Ein Grinsen huschte über seine Züge, und er nickte ihr zu. Für die Schmach, die sie ihm angetan hatte, hatte er sich bitter gerächt.
    Mary wusste nicht, was sie tun sollte. Am liebsten hätte sie Winston angewiesen, die Kutsche anzuhalten, damit sie zu dem Corporal gehen und ihn zurechtweisen konnte. Aber eine innere Stimme sagte ihr, dass sie damit alles nur noch schlimmer machen würde.
    Der Stolz und die Unbeugsamkeit des Alten waren den englischen Machthabern ein Dorn im Auge gewesen. Sie hatten ihn hingerichtet, um ein Exempel zu statuieren und der Bevölkerung zu zeigen, dass es gefährlich war, sich gegen die Mächtigen aufzulehnen. Und indirekt hatte Mary sogar noch dazu beigetragen.
    Innerlich schüttelte sie sich. Sie schämte sich dafür, zu jenen zu gehören, die die Macht in diesem Land in Händen hielten. Auf den Adelsbällen im Süden amüsierte man sich gern über die Dummheit der schottischen Bauern und dass man ihnen die Zivilisation notfalls auch mit Gewalt bringen müsse. Junge Männer, die ihr Leben lang noch keine Not gelitten hatten, gefielen sich darin, geschmacklose Scherze über sie zu machen.
    Die Realität jedoch sah anders aus. Nicht Zivilisation, sondern Willkür herrschte in diesem Land, und nicht die Schotten, sondern die Engländer schienen hier die wahren Barbaren zu sein.
    Marys Empörung war grenzenlos, Tränen der Wut und der Trauer stiegen ihr in die Augen. Und während die Kutsche Jedburgh verließ, fragte sich die junge Frau einmal mehr, in was für eine schreckliche Gegend man sie geschickt hatte.

4.
    W ährend seiner Zeit als Sheriff von Selkirk hatte Walter Scott zwei Obduktionen beigewohnt.
    Die erste hatte er selbst angeordnet, als Douglas McEnroe, ein stadtbekannter Frauenheld, mit gebrochenem Genick im Graben der Landstraße gefunden worden war, die von Ashkirk nach Lillisleaf führte; die andere war notwendig geworden, als eine Witwe aus Ancrum behauptet hatte, der plötzliche Herztod ihres Mannes könne kein Zufall gewesen sein. Damals hatte sich in beiden Fällen der Mordverdacht nicht bestätigt, und insgeheim wünschte sich Sir Walter, dass es auch heute so sein würde. Eine dunkle Vorahnung sagte ihm jedoch, dass er vergeblich hoffte.
    William Kerr war ein ältlicher Mann, der unter der Last seiner Jahre gebückt ging und den an kalten Nebeltagen, von denen es in den Lowlands so viele gab, das Rheuma plagte. Da er der einzige Arzt in Selkirk war, hatte er stets alle Hände voll zu tun, wobei es keinen Unterschied machte, ob ein Dorfbewohner Zahnschmerzen hatte oder die Kuh eines Bauern kalbte – Kerr war für Notfälle beider Art zuständig.
    Als Sheriff von Selkirk hatte Sir Walter Kerr schätzen gelernt, und zwar als Freund wie auch als kompetenten Mediziner. Der alte Will mochte ein seltsamer Kauz sein, der eigentümliche Gewohnheiten pflegte, aber er war der beste Arzt, den Sir Walter kannte. Und

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