Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bruderschaft des Feuers

Die Bruderschaft des Feuers

Titel: Die Bruderschaft des Feuers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfredo Colitto
Vom Netzwerk:
seinen grünen Augen musterte, damit auch der ungehorsamste Student eingeschüchtert war. Aber diesmal, so wusste er, würde das nicht genügen. Weibliche Anatomie war stets der schwierigste Teil des Lehrstoffs.
    Er sah, wie ein Student hastig etwas hinkritzelte, und an dem unterdrückten Kichern von dessen Banknachbarn merkte er, dass es wohl eine obszöne Antwort auf seine Frage war, aber er tat so, als hätte er nichts bemerkt. Ein anderer Student meldete sich. Als Mondino sah, um wen es sich handelte, zog er seine Schultern leicht nach vorn und machte sich auf eine polemische Antwort gefasst.
    »Sprich nur, Andolfo.«
    Der junge Mann stand auf. Er war Ire, mit Sommersprossen im Gesicht und feuerroten Haaren um seine Tonsur.
    »Sie haben diese Form«, sagte er in holprigem Latein und vermied dabei ganz bewusst das Wort »Brüste«, »weil Gott sie ihnen so geschenkt hat. Und es ist nicht Aufgabe des Menschen, die Beweggründe des Allmächtigen zu hinterfragen.«
    »Ganz recht«, sagte Mondino, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. »Die Medizin beschäftigt sich ja in der Tat auch nicht damit, Gottes Beweggründe zu diskutieren, sondern will nur einen Bezug herstellen zwischen den Organen, die ER uns gegeben hat, und der Aufgabe, die sie zu erfüllen haben. Diesen Bezug zu kennen ist der erste Schritt auf dem Weg, sie heilen zu können, wenn sie erkranken.« Mit einer Handbewegung wehrte er eine weitere Entgegnung Andolfos ab und fragte: »Noch jemand?«
    Eine weitere Stimme erhob sich im Raum. »Die Brüste der Frauen sind von rundlicher Form«, referierte ein zarter blonder Jüngling mit einem sinnlichen Mund, ohne erst Mondinos Aufforderung abzuwarten oder auch nur aufzustehen, »weil sie als Gefäß für das Blut dienen, das sich später in Milch verwandeln soll. Außerdem, wie schon Galen in seinem De juvamentis membrorum darlegt, sind sie der Schutzschild des Herzens. Deshalb müssen sie eine geeignete Form aufweisen, und die ist eben rund. Schließlich …«
    »Das genügt, Odofredo«, unterbrach Mondino seinen Redefluss. »Die Antwort ist richtig, aber ich weise dich noch einmal darauf hin, dass du erst meine Erlaubnis abwarten musst, bevor du aufstehst und etwas sagen darfst. Am Ende der Stunde wirst du dem Pedell einen Soldo Strafe zahlen.«
    Dieser blutjunge Deutsche war sein Lieblingsschüler. Wie viele Studenten trug er Mönchskleidung, aber in seinem Fall wohl allein deshalb, weil es praktisch war, denn er verfügte nur über wenig Geld. Odofredo besaß Talent und Neugier und war frei von Vorurteilen, drei grundlegende Eigenschaften für jeden wahren Wissenschaftler. Doch die vierte wichtige Tugend, Disziplin, ging ihm gänzlich ab.
    Ein anderer Student meinte, die weibliche Brust sei größer als die männliche, damit sie die Wärme, die aus dem Herzen käme, zurückwerfen und zu diesem zurückführen könne. Und das hätten Frauen nötiger, da ihr Herz von weniger Wärme umgeben sei als das der Männer.
    Bei dieser zutreffenden Antwort, denn man wusste ja, dass Frauen im Gegensatz zu den Männern, die ein warmes Temperament hatten, zu einer kalten complexio neigten, erhob sich Raunen und Flüstern im ganzen Raum. Jeder seiner Studenten schien eine kaltherzige Frau zu kennen, die er als Beispiel anführen wollte. Es war unglaublich, wie auch die ältesten seiner Schüler, gestandene Männer von dreißig oder fünfunddreißig Jahren, sich in unreife Jungen verwandelten, kaum dass sie einen Fuß in den Hörsaal setzten.
    Mondino zeigte sich nachsichtig und nahm es gelassen. Doch dann bat er sich erneut Ruhe aus und schickte sich an, den Unterricht zu beenden. In dem Moment wurde die Tür des Hörsaals aufgerissen, und der Pedell kam herein. Er wirkte verstört. Doch bevor er etwas sagen konnte, wurde er beiseitegestoßen, und auf der Schwelle erschien die plumpe Gestalt von Taverna Tolomei, dem neuen Podestà. Er war sorgfältig gekleidet, trug eine übermäßig große, achteckige Kopfbedeckung und zum Zeichen seiner Macht als Bürgermeister den goldenen Stab in der rechten Hand. Hinter ihm erkannte man den Capitano del Popolo und die Häscher seiner Eskorte.
    »Seid Ihr Mondino de’ Liuzzi?«, fragte Tolomei ohne Umschweife.
    Mondino umklammerte den Rand des Holzpults vor ihm, um seinen Zorn zu beherrschen. »Ich erlaube niemandem, meine Schule zu betreten, bevor der Unterricht beendet ist«, sagte er. »Als Zeichen des Respekts werde ich für Euch eine Ausnahme machen. Und Ihr könntet mein

Weitere Kostenlose Bücher