Die Bruderschaft vom Heiligen Gral 01 - Der Fall von Akkon
schmalen Felsvorsprung auf der anderen Seite und griff mit beiden Händen nach der Strickleiter. Er ruckte mehrmals kräftig daran. »Und?«, rief Maurice ihm zu. »Wie fühlen sich die Stricke an? Was hast du für ein Gefühl?« Tarik wandte sich ihnen kurz zu. »Lass es mich mit deinen Worten sagen, Maurice!«, rief er zurück. »Eine solide Treppe wäre mir lieber! Aber die Stricke scheinen noch recht ordentlich in Schuss zu sein. Na, das werden wir ja gleich wissen.« »Wir werden zur Muttergottes beten, dass die Leiter hält!«, versprach Maurice.
»Gebe Gott, dass sie uns auch aus den felsigen Gedärmen von Ak kon hört«, erwiderte Tarik trocken, stellte seinen rechten Stiefel auf einen der unteren Querstricke und begann den Aufstieg. »Gegrüßt seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir«, be gannen sie, gemeinsam zu beten, während sie mit großer innerer Anspannung beobachteten, wie Tarik die Strickleiter erklomm. Sie schwankte dabei hin und her. »Verdammt!«, fluchte Tarik plötzlich, als der Lichtschein der bla kenden Fackel ihn kaum noch erreichte, und baumelte einen Mo ment lang mit den Beinen in der Luft. Der Schreck fuhr seinen Gefährten in die Glieder und sie hielten den Atem an. »Was ist?«, schrie McIvor besorgt zu ihm hoch. »Hier ist eine der Trittstreben gerissen!«, kam es von oben zu rück. »Aber sonst ist alles bestens. Du wirst deine wahre Freude haben, Maurice! . . . Wartet mal, ich sehe was da oben...Ja, ich habe jetzt das Ende in Sicht! Dem Himmel sei Dank!« Wenig später rief Tarik ihnen zu, dass er sicheren Grund erreicht hatte und sie jetzt den Beutel mit dem Heiligen Gral an das Ende der Strickleiter binden konnten. Maurice übernahm diese Aufga be. Er verstaute im Beutel auch die beiden Kerzen und die Blech dose. Es dauerte eine ganze Weile, bis Tarik das Ende der Strick leiter mit dem Heiligen Gral zu sich hochgezogen hatte. Noch länger dauerte es, bis alle Schwerter den langen Weg hinauf ge nommen hatten. Mehr als einmal musste Tarik innehalten und sich eine Atempause gönnen, weil ihn die Arme zu sehr schmerz ten. Die lange Strickleiter allein besaß schon ein beachtliches Ge wicht. Doch zusammen mit zwei Schwertgehängen an ihrem En de hatte er das Gefühl, gewaltige Bleigewichte aus der Tiefe hochziehen zu müssen.
»Warum habe ich nicht dich zuerst hochklettern lassen, McIvor!«, klagte Tarik ihnen sein Leid aus der Höhe. »Mir fallen gleich die Arme ab! Dabei wäre es dir mit deinen Bärenpranken bestimmt ein Leichtes gewesen, hier den Tauzieher zu spielen.« »Dafür hast du den Aufstieg schon hinter dir und bist mit dem Heiligen Gral in Sicherheit!«, rief McIvor zurück. »Außerdem verzehrt Neid die guten Taten so wie das Feuer trockenes Holz, mein Bester!« »Schon gut, schon gut«, kam es von oben zurück. »Und versuch jetzt nicht, mich mit weisen Sprüchen ausstechen zu wollen, Mc-Ivor! Darin wirst du immer den Kürzen ziehen! Ich sage es mit den Sufis meiner Heimat: ›Jeder, der seinen Bruder wegen einer Sünde schmäht, wird nicht sterben, ehe er diese Sünde nicht selbst begangen hat!‹« Schließlich war es dann so weit, dass auch Gerolt, Maurice und McIvor sich der Strickleiter anvertrauen mussten. Gerolt machte sich bereit. Er klemmte sich die Ersatzfackel im Rücken hinter den breiten Gürtel, überquerte den gähnenden Abgrund und ergriff die rauen Seitenstricke der Leiter. »Wir werden sie so straff wie möglich halten, damit du nicht so wild hin und her pendelst«, sagte Maurice und winkte McIvor heran, der mit der brennenden Fackel auf der anderen Seite gewartet hatte. »Verbrenn mir bloß nicht den Hintern mit der Fackel!«, rief Gerolt dem Schotten zu. Dann kletterte er behände, aber mit klopfendem Herzen in die Höhe. Er blickte nicht nach unten, sondern richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf die Stricke vor seinen Augen. Vor jedem neuen Schritt vergewisserte er sich, dass seine Hände mit sicherem Griff die Führungsstricke umfasst hielten. Mehrmals hatte er das be ängstigende Gefühl, als dehnten sich die Querstreben unter seinen Stiefelsohlen. Und ihm war auch, als könnte er hören, wie einzelne Stränge unter seinem Gewicht rissen. Mit Sorge dachte er an Maurice und McIvor, die noch schwerer waren als er. Höher und höher kletterte er an der kalten Felswand entlang, die über zahlreiche scharfe Kanten und Spitzen verfügte. Und während er sich immer weiter vom Schein der Fackel unter ihm entfernte, fragte er sich
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