Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
Betillon«, erklärte er, als sei damit bereits alles gesagt. Und das war es auch: Aufgrund dessen, was er während der Revolte in Knebb angerichtet hatte, war Tomas Betillon in Noros immer noch als »der tollwütige Hund« bekannt. Sein Gesicht war kantig und grau, der Backenbart ungestutzt, und die Augen lagen unter schweren Lidern halb verborgen.
»Ist diese Unterredung wirklich notwendig?«, wiederholte Korion ungeduldig. »Vult hat also einen Plan für uns ausgearbeitet. Geben wir ihm sein Gold, dann kann er wieder seiner Wege ziehen.« Er grinste. »Mehr brauchte es damals in Lukhazan auch nicht.«
Lucia klopfte auf die Tafel, woraufhin alle verstummten und sich ihr zuwandten. »Genug des Geplänkels, meine Herren.« Sie fixierte Korion mit einem kalten Blick und sah mit einem Mal gar nicht mehr aus wie die freundliche Lieblingstante. »Diese beiden Edelmänner sind für unser Vorhaben unverzichtbar, und sie sind uns höchst willkommen. Sie sind auf meine – auf unsere – Einladung gekommen, weil sie mit einem äußerst erfreulichen Vorschlag an uns herangetreten sind, und wenn wir ihn umsetzen wollen, brauchen wir ihre Hilfe.« Sie deutete auf die bequem gepolsterten Ledersessel. »Bitte, erweist uns die Ehre und setzt Euch zu uns.«
Der Kaiser wirkte, als würde er gerne etwas zu Korions Verteidigung sagen, tat es aber nicht. Stattdessen zog er nur einen leichten Schmollmund.
Lucia legte die Hand auf einen Stapel Papier vor ihr. »Ihr alle habt die Unterlagen gelesen und wart bei den geheimen Besprechungen zu Magister Vults Plan für den kommenden Kriegszug dabei, doch dies ist die erste Gelegenheit, da wir alle am selben Ort versammelt sind. Lasst mich betonen, dass wir hier über das Schicksal von Millionen Menschen entscheiden – über das Schicksal von ganzen Nationen . Wir werden über den Verlauf des dritten Kriegszugs entscheiden, und zwar nicht auf dem Schlachtfeld, sondern hier, in diesem Raum. Wir, die ich hier zusammengerufen habe.« Sie warf ihrem Sohn, dem Kaiser, einen kurzen Blick zu. »Die wir hier zusammengerufen haben.«
Gyle fragte sich, ob sie jetzt – als lebende Heilige – über mehr Autorität verfügte als ihr Sohn. Und er stellt sich wahrscheinlich genau dieselbe Frage .
Lucia blickte in die Runde. »Zunächst werde ich die Situation genau darlegen, damit wir alle auf demselben Wissensstand sind. Dann werden wir gemeinsam die nächsten Schritte beschließen.« Sie erhob sich und begann, im Kreis um die Tafel herumzugehen. Ihre Stimme war glasklar und vollkommen gefühllos – eher wie die eines Racheengels als einer Heiligen.
»Es dürfte Euch nicht entgangen sein, edle Herren, dass das goldene Zeitalter Rondelmars sich allmählich seinem Ende zuneigt.« Der Kaiser wirkte nicht besonders glücklich über ihre Wortwahl, unterbrach sie aber nicht. »Nach außen hin mag es aussehen, als seien wir stärker denn je zuvor, doch die Reinheit – das Herz von Rondelmars gerechter Herrschaft über die Welt – ist besudelt. Unser Reich wurde verunreinigt von Männern, denen Gold wichtiger ist als die Liebe zu Kore. Kaufleute schmieden ungehindert ihre Ränke, und ihre Geschäfte florieren, während wir, die wir Kore und den Kaiser aufrichtig lieben, kämpfen müssen um das, was uns rechtmäßig zusteht. Ein großes Übel wurde in diese Welt gebracht, und es muss vernichtet werden. Das Übel, von dem ich spreche, ist die unselige Leviathanbrücke, jenes verfluchte Artefakt von Antonin Meiros und seinen gottlosen Spießgesellen.« Von plötzlicher Wut erfasst, schlug sie mit der Faust auf den Tisch. »Als Kore dieses Land schuf, erschuf er zwei große Kontinente, getrennt durch einen noch größeren Ozean, und wies seine Schwester Lune an, die Wasser dazwischen unpassierbar zu machen, um Ost und West für immer voneinander zu trennen . Der kluge, edle und rechtschaffene Westen und der tumbe, lasterhafte, ketzerische Osten sollten nie miteinander in Kontakt kommen, nicht unter der Sonne und nicht unter dem Mond – so steht es geschrieben. Doch Meiros, dieser Emporkömmling, der zu feige war, sich der Befreiung Yuros’ vom Joch der rimonischen Herrschaft anzuschließen, verließ den Bund der Dreihundert und baute seine verfluchte Brücke. Diese Brücke ist es, über die all unsere Leiden kommen, und ich frage mich, ob Antonin Meiros auch nur im Entferntesten ahnt, was er damit angerichtet hat!«
Das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, schien er sich dessen durchaus bewusst zu sein
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