Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
, dachte Gyle und fragte sich, ob Lucia Fasterius tatsächlich an das bigotte Dogma glaubte, das sie da vertrat. Sie schien intelligent und gebildet zu sein, sogar gütig. Aber in ihren Augen lauerte etwas Fanatisches wie eine Giftschlange, die nur darauf wartet zuzubeißen.
Lucia blieb hinter ihrem Stuhl stehen und hielt die hölzerne Lehne fest umklammert. »Seit einem Jahrhundert sehen wir nun zu, wie sich die Brücke alle zwölf Jahre aus den Fluten erhebt und passierbar wird. Wir haben gesehen, wie unsere Händler sich in Scharen über sie ergießen und mit allen nur erdenklichen Arten von suchterzeugenden Übeln aus dem Osten zurückkehren: mit Opium und Haschisch, mit Kaffee und Tee, mit Seidenstoffen und anderem Tand, der unser Volk verdirbt. Sie können praktisch jeden beliebigen Preis dafür verlangen. Die Bankiers gewähren ihnen Kredit, während sie den Adelsstand ausquetschen – uns, die Schutzmagi, die Rondelmar erst zu dem gemacht haben, was es heute ist. Wer sind die Reichsten in Rondelmar? Händler und Bankiers! Vollgefressener Abschaum wie Jean Benoit und seine Kaufmannsbrut. Und was tun sie mit ihrem gottlosen Gewinn? Sie kaufen unseren Besitz , unsere Häuser , unsere Kunst und, schlimmer noch, unsere Söhne und Töchter, unser Blut !« Inzwischen brüllte sie fast, Speicheltröpfchen flogen aus ihrem Mund. »Dieser Abschaum kauft unsere Kinder, nimmt sie zu Mann oder Frau, damit ihre gottlosen Nachkommen alles bekommen können, sowohl Gold als auch Gnosis, und was dabei herauskommt, ist eine neue Rasse: die Magus-Kaufleute, abscheuliche, habgierige Mischlinge. Aber täuscht Euch nicht, ein Krieg zieht auf zwischen den Geldmachern und denen, die reinen Blutes sind. Denkt einmal darüber nach: Händler und Hausierer von niederer Geburt kaufen unsere Töchter, damit sie Nachkommen ihr Eigen nennen können, die der Gnosis mächtig sind. Und was tun wir, die Magi? Wir sehen zu wie Luden. Wir sind die Luden – unserer eigenen Kinder !«
Lucias Augen verengten sich zu bösartigen Schlitzen. »Doch der Thron hat nicht tatenlos zugesehen, oh nein. Vor zwei Mondfluten schlugen wir zu. Mein Gatte, Kaiser Magnus Sacrecour, möge er in Frieden ruhen, stellte sich dem Ketzer Meiros furchtlos entgegen, und Meiros hat gekniffen. Wir wussten, dass Meiros seine eigene Schöpfung nicht zerstören würde, und sind mit unseren Armeen nach Antiopia marschiert. Wir haben die Ketzer bestraft. Wir haben Dhassa und Javon und Kesh erobert und neue Regierungen dort eingesetzt. In unserem Namen und im Namen Kores sollen die Ungläubigen dort bekehrt werden, doch was noch wichtiger ist: Wir haben die Macht der Händler gebrochen , das Vertrauen zwischen den Kaufleuten des Ostens und Benoits Gesindel ist zerstört. Zwar musste auch unser Volk ein wenig Leid ertragen, aber die Macht der Kaufleute und Bankiers ist nachhaltig geschwächt!«
Ein wenig Leid ertragen? , dachte Gyle. In Form von Hunger, bitterer Armut und ständigen Unruhen. Aber wenigstens konntet Ihr Euren Händlern einen Strich durch die Rechnung machen.
Lucia nickte Betillon zu. »Tomas und seine Männer werden Hebusal verteidigen und den nächsten Kriegszug vorbereiten, aber unsere Kassen sind noch leer von den letzten Feldzügen. Die Menschen haben gespendet, großzügig gespendet, und doch schulden wir den verfluchten Bankiers Millionen, während sie immer reicher werden und weiter an Einfluss gewinnen – und weiter unsere Kinder kaufen .«
Wenn nicht vier Fünftel Eurer unrechtmäßigen Kriegsbeute in den Taschen bestimmter Mitglieder des kaiserlichen Hofes verschwunden wären, wäre die Schatzkammer vielleicht nicht ganz so leer , dachte Gyle und warf Calan Dubrayle, der denselben Gedanken zu haben schien, einen kurzen Blick zu.
Lucia, die Mater-Imperia, setzte sich, das Gesicht immer noch rot vor Eifer. Nur ihre Stimme war wieder absolut kalt. »Lasst mich ganz offen sprechen, edle Herren: Der Thron war noch nie so schwach … was nicht heißt, dass der Kaiser schwach wäre«, schob sie hastig ein, als sie sah, wie Constant aufhorchte, »denn obwohl er damals noch ein Kind war, entschied Constant weise und mutig und gab den Befehl zum zweiten Kriegszug, der unsere Position im Tal von Hebb festigte. Doch die Kaufleute schachern weiter mit unseren Seelen und verwandeln Kores auserwähltes Volk in eine Nation von Krämern.
Zudem haben wir noch andere Feinde: Herzog Echor von Argundy, der Bruder des vorigen Kaisers, erhebt Anspruch auf den Thron, und
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