Die Brüder Karamasow
ihm los und lief vor den Vorhang. Mitja folgte ihr wie trunken. ›Mag jetzt geschehen, was da will – für eine Minute Seligkeit gebe ich die ganze Welt hin!‹ Dieser Gedanke huschte ihm durch den Kopf. Gruschenka trank wirklich noch ein Glas Champagner auf einen Zug aus und war augenblicklich betrunken. Sie setzte sich mit glückseligem Lächeln in den Lehnstuhl, auf ihren früheren Platz. Ihre Wangen glühten, ihre Lippen brannten, die funkelnden Augen wurden trübe, ihr leidenschaftlicher Blick bekam etwas Lockendes. Sogar Kalganow spürte die Wirkung dieses Blickes und trat zu ihr.
»Hast du gemerkt, daß ich dich vorhin geküßt habe, als du schliefst?« fragte sie ihn lallend. »Ich bin jetzt betrunken, so ist das ... Und du bist nicht betrunken? Warum trinkt denn Mitja nicht? Warum trinkst du nicht, Mitja? Ich habe getrunken, und du trinkst nicht ...«
»Ich bin betrunken! Ich bin auch so schon betrunken ... Von dir bin ich trunken, aber jetzt will ich mich auch an Wein betrinken.«
Er trank noch ein Glas, und – das kam ihm selber seltsam vor – von diesem letzten Glas erst wurde er betrunken, urplötzlich betrunken, während er bis dahin nüchtern gewesen war, wie er sich selbst erinnerte. Von diesem Augenblick an drehte sich alles um ihn im Kreis, als ob er Fieber hätte. Er ging umher, lachte, redete mit allen, und das alles gewissermaßen unbewußt. Nur ein einziges unveränderliches, brennendes Gefühl war alle Augenblicke spürbar, »wie eine glühende Kohle in der Seele«: daran erinnerte er sich später. Er trat zu ihr, setzte sich neben sie, sah sie an und hörte, was sie sagte ... Sie aber war furchtbar redselig geworden, rief alle zu sich, winkte auf einmal ein Mädchen aus dem Chor heran, küßte sie und schickte sie wieder weg, oder segnete sie manchmal, indem sie mit der Hand ein Kreuz schlug. Vielleicht brach sie im nächsten Moment in Tränen aus. Viel Spaß machte ihr »das alte Männchen«, wie sie Maximow nannte. Er kam alle Augenblicke hergelaufen, um ihr die Hände »und jedes Fingerchen« zu küssen; zuletzt tanzte er noch einen Tanz nach einem alten Tanzlied, das er selbst sang. Besonders feurig hüpfte er zu dem Refrain:
Das Schweinchen grunzte chru-chru-chru,
das Kälbchen blökte mu-mu-mu,
das Entchen machte qua-qua-qua,
das Gänschen machte ga-ga-ga,
im Flur ein kleines Hühnchen lief,
das put-put, put-put, put-put rief.
Ja, so rief es,
ja, so lief es ...
»Gib ihm etwas, Mitja«, sagte Gruschenka. »Schenk ihm etwas, er ist ja arm. Ach, die Armen, die das Schicksal zurückgesetzt hat ... Weißt du, Mitja, ich werde in ein Kloster gehen. Nein, wirklich, das werde ich einmal tun. Aljoscha hat mir heute Worte gesagt, die fürs ganze Leben in meiner Seele haften werden ... Ja ... Aber heute wollen wir tanzen. Morgen will ich ins Kloster gehen, aber heute wollen wir tanzen. Ich will ausgelassen sein, ihr lieben Leute – was ist schon dabei? Gott wird es verzeihen. Wenn ich Gott wäre, würde ich allen Menschen verzeihen! ›Meine lieben Sünder!‹ würde ich sagen. ›Von heute an verzeihe ich euch allen!‹ Ich aber werde gehen und alle Menschen um Verzeihung bitten. ›Verzeiht, ihr guten Leute!‹ werde ich sagen. ›Ein dummes Weib – jawohl, das bin ich. Eine Bestie bin ich, ja, so ist es!‹ Aber ich will beten. Ich habe eine Zwiebel verschenkt. Eine Sünderin wie ich möchte beten! Mitja, laß sie tanzen, hindere sie nicht! Alle Menschen in der Welt sind gut, ohne Ausnahme. Es ist schön auf der Welt. Wenn wir auch böse sind – es ist doch schön auf der Welt. Wir sind böse und gut ... Nein, sagt mir doch, ich möchte euch etwas fragen, kommt alle her, ich frage euch, beantwortet mir alle die eine Frage: Warum bin ich so gut? Ich bin ja doch gut, ich bin sehr gut ... Nun also, warum bin ich so gut?« So lallte Gruschenka, die immer betrunkener wurde; schließlich erklärte sie geradezu, sie wolle jetzt selber tanzen. Sie stand aus ihrem Lehnstuhl auf, taumelte. »Mitja, gib mir keinen Wein mehr! Und wenn ich dich auch darum bitte – gib mir keinen! Der Wein beruhigt nicht. Alles dreht sich im Kreis, auch der Ofen, alles dreht sich im Kreis. Ich will tanzen. Alle sollen zusehen, wie ich tanze ... Wie gut und schön ich tanze ...«
Es war ihr mit dieser Absicht Ernst. Sie zog ihr kleines weißes Batisttaschentuch heraus und faßte es mit der rechten Hand an einem Zipfel, um es beim Tanz zu schwenken. Mitja ordnete geschäftig alles Nötige an; die Mädchen
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