Die Brüder Karamasow
ich Ihnen, nicht bis zu Ihrer Ankunft und nicht bis zum Sonnenaufgang gewartet, wie ich das ursprünglich beabsichtigt hatte, sondern hätte schon früher ein Ende gemacht, ohne den Tagesanbruch abzuwarten! Das sagt mir mein innerstes Gefühl. Ich hätte in zwanzig Jahren meines Lebens nicht so viel lernen können wie in dieser einen verfluchten Nacht! Und wäre ich in dieser Nacht so ein Mensch gewesen, würde ich jetzt, da ich mit Ihnen zusammensitze, so ein Mensch sein, würde ich so reden und mich so benehmen, wenn ich wirklich ein Vatermörder wäre – wo mir doch schon der unbeabsichtigte Totschlag Grigoris die ganze Nacht keine Ruhe gelassen hat, nicht aus Angst, o nein, nicht aus Furcht vor Ihrer Strafe! Nein, die
Schandtat an sich hat mich so erregt! Und da wollen Sie, daß ich solchen Spöttern wie Ihnen, solchen blinden Maulwürfen und Spöttern, die nichts sehen und nichts glauben, noch eine neue Gemeinheit von mir erzählen soll, noch eine neue schmähliche Tat? Nein, und selbst wenn mich das vor Ihrer Anklage retten würde! Lieber will ich zur Zwangsarbeit! Derjenige, der diese Tür aufgemacht hat und durch sie hineingegangen ist, der hat ihn auch ermordet und beraubt. Wer es ist? Da stehe ich vor einem quälenden Rätsel – aber Dmitri Karamasow ist es nicht gewesen, das sollen Sie wissen! Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann! Und nun lassen Sie es genug sein, setzen Sie mir nicht länger zu! Schicken Sie mich nach Sibirien, richten Sie mich hin, bloß reizen Sie mich nicht länger! Ich werde nichts mehr sagen. Rufen Sie Ihre Zeugen!«
Mitja hatte seinen überraschenden Monolog so vorgetragen, als sei er schon fest entschlossen, von nun an konsequent zu schweigen. Der Staatsanwalt hatte ihn die ganze Zeit beobachtet und sagte dann mit der kühlsten und ruhigsten Miene, als handelte es sich um die gewöhnlichste Sache der Welt: »Apropos, hinsichtlich dieser offenstehenden Tür, die Sie soeben erwähnten, können wir Ihnen jetzt von einer interessanten, für Sie wie für uns höchst wichtigen Aussage des alten Grigori Wassiljewitsch berichten. Nachdem er wieder zur Besinnung gekommen war, hat er uns auf unsere Fragen mit aller Bestimmtheit erwidert, daß er zu der Zeit, als er vor die Haustür trat und im Garten ein Geräusch hörte, weshalb er sich entschloß, in den Garten zu gehen, daß er beim Eintritt in den Garten, noch bevor er Sie in der Dunkelheit laufen sah, einen Blick nach links geworfen und tatsächlich das geöffnete Fenster bemerkt habe, zugleich aber auch in weit geringerer Entfernung die offenstehende Tür. Jene Tür, von der Sie erklärt haben, sie sei die ganze Zeit, während Sie im Garten waren, geschlossen gewesen! Ich will Ihnen nicht verhehlen, daß Grigori Wassiljewitsch selbst mit Bestimmtheit den Schluß zieht, Sie müßten durch die Tür gelaufen sein, obgleich er das natürlich nicht mit eigenen Augen gesehen hat, da Sie sich ja schon in einiger Entfernung befanden und auf den Zaun zuliefen, als er sie zuerst bemerkte.«
Mitja war schon während dieser Rede vom Stuhl aufgesprungen. »Unsinn!« brüllte er plötzlich empört. »Eine freche Lüge! Er konnte die Tür gar nicht offen sehen, weil sie geschlossen war! Er lügt!«
»Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen zu wiederholen, daß seine Aussage sehr bestimmt war. Er schwankte nicht. Er blieb dabei, wir haben ihn mehrere Male gefragt.«
»Gewiß, ich habe ihn mehrere Male gefragt!« bestätigte auch Nikolai Parfjonowitsch eifrig.
»Eine Lüge, eine Lüge! Das ist entweder eine Verleumdung oder die Halluzination eines Irren!« schrie Mitja weiter. »Es ist ihm einfach im Fieber, infolge des Blutverlustes, so vorgekommen! Und da redet er nun diesen Unsinn!«
»Ja, aber er hat doch die offenstehende Tür nicht erst bemerkt, als er wieder zu sich kam, sondern schon vorher, als er aus dem Seitengebäude in den Garten ging.«
»Das ist eine Lüge, das ist unmöglich! Er verleumdet mich, weil er wütend auf mich ist ... Er konnte es nicht sehen ... Ich bin nicht durch die Tür gelaufen«, sagte Mitja und rang mühsam nach Atem.
Der Staatsanwalt wandte sich an Nikolai Parfjonowitsch und sagte mit besonderem Nachdruck zu ihm: »Zeigen Sie es!«
»Kennen Sie diesen Gegenstand?« fragte Nikolai Parfjonowitsch, wobei er ein großes Kuvert auf den Tisch legte; aus dickem Papier im Kanzleiformat, mit drei noch wohlerhaltenen Siegeln. Das Kuvert selbst war leer und auf der einen Seite aufgerissen; Mitja starrte es mit
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