Die Brüder Karamasow
Eindruck gemacht hat und in meinem Gedächtnis besonders haftengeblieben ist. Möglich, daß ich zweitrangige Dinge für wichtig gehalten und gerade das Markanteste, Unentbehrlichste weggelassen habe ... Allerdings sehe ich ein, daß es das beste ist, wenn ich mich gar nicht erst entschuldige. Ich werde es machen, so gut ich kann, und die Leser werden selbst erkennen, daß ich es nur so gut gemacht habe, wie ich konnte.
Bevor wir den Gerichtssaal betreten, möchte ich etwas erwähnen, was mich an diesem Tag ganz besonders erstaunt hat, übrigens nicht nur mich. Alle wußten zwar, daß dieser Prozeß viele Leute interessierte, daß alle vor Ungeduld brannten, wann denn endlich die Verhandlung stattfinden werde, und daß man in unserer Gesellschaft diese zwei Monate hindurch viel geredet, eine Menge von Vermutungen aufgestellt und sich in übertriebenen Ausrufen und seltsamen Phantasien ergangen hatte; alle wußten auch, daß dieser Prozeß in ganz Rußland eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte – und doch hatte niemand eine Ahnung davon, bis zu welchem Grad er die Gemüter erhitzt, aufgeregt, erschüttert hat, und dies nicht nur in unserer Stadt, sondern überall, wie sich am Tag der Gerichtsverhandlung erwies. Zu diesem Tag hatten sich nicht nur aus der Hauptstadt unseres Gouvernements, sondern auch aus mehreren anderen Städten Rußlands, ja sogar aus Moskau und Petersburg Gäste bei uns eingefunden. Es waren Juristen gekommen, es waren sogar einige vornehme Persönlichkeiten eingetroffen, und nicht minder auch Damen. Alle Eintrittskarten waren vergriffen. Für besonders angesehene Persönlichkeiten unter den männlichen Besuchern waren sogar ganz ungewöhnliche Plätze hinter dem Tisch eingerichtet worden, an welchem die Richter saßen; man sah dort eine Reihe von Lehnstühlen mit verschiedenen Personen, was bei uns früher nie zugelassen worden war. Besonders zahlreich waren die Damen erschienen, einheimische wie auswärtige; ich glaube, sie bildeten nicht weniger als die Hälfte des gesamten Publikums. Schon allein die Zahl der zugereisten Juristen war so groß, daß man nicht wußte, wo man sie plazieren sollte, da alle Eintrittskarten längst anderweitig vergeben waren. Ich habe selbst gesehen, wie am Ende des Saales, hinten auf der Estrade, in aller Eile ein provisorischer Verschlag errichtet wurde, in dem man alle diese fremden Juristen unterbrachte; und sie schätzten sich sogar glücklich, daß sie dort wenigstens stehen konnten, da die Stühle, um Raum zu gewinnen, aus diesem Verschlag entfernt worden waren; die dort versammelte Menge stand während der ganzen Verhandlung dicht gedrängt Schulter an Schulter. Einige Damen, vor allem auswärtige, waren auf den Galerien des Saales überaus geputzt erschienen; doch die Mehrzahl der Damen hatte vor Aufregung nicht einmal daran gedacht, besondere Toilette zu machen. Von ihren Gesichtern konnte man gespannte, hochgradige, fast krankhafte Neugier ablesen. Eine der charakteristischsten Besonderheiten dieser im Saal versammelten Gesellschaft, eine Besonderheit, die unbedingt hervorgehoben werden muß, bestand darin, daß fast alle Damen, zumindest eine große Mehrheit von ihnen, auf Mitjas Seite standen und seinen Freispruch wünschten – vielleicht hauptsächlich deswegen, weil sie sich über ihn die Meinung gebildet hatten, er sei ein Bezwinger weiblicher Herzen. Sie wußten, daß zwei Rivalinnen auftreten würden. Die eine von ihnen, Katerina Iwanowna, erregte besonders das Interesse der Damen. Über sie wurde sehr viel Ungewöhnliches erzählt; über die Leidenschaft, die sie angeblich trotz seines Verbrechens für Mitja empfand, waren erstaunliche Anekdoten im Umlauf. Besonders sprach man von ihrem Stolz – sie hatte fast bei niemandem in unserer Stadt einen Besuch gemacht – und von ihren »aristokratischen Verbindungen«. Es hieß, sie wolle die Regierung bitten, den Verbrecher zur Zwangsarbeit begleiten und sich mit ihm irgendwo in den Bergwerken unter der Erde trauen lassen zu dürfen. Mit nicht geringerer Aufregung erwarteten die Damen das Erscheinen von Katerina Iwanownas Nebenbuhlerin Gruschenka. Mit einer geradezu peinlichen Neugier sahen sie dem Zusammentreffen der beiden Nebenbuhlerinnen vor Gericht entgegen: des stolzen aristokratischen Mädchens und der »Hetäre«. Gruschenka war unseren Damen übrigens besser bekannt als Katerina Iwanowna. Sie, »die Verderberin Fjodor Pawlowitschs und seines unglücklichen Sohnes«, hatten unsere Damen
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