Die Brüder Karamasow
auch früher schon gesehen, und alle, fast ohne Ausnahme, hatten sich darüber gewundert, wie sich Vater und Sohn in so eine »höchst gewöhnliche, überhaupt nicht einmal schöne Russin« dermaßen hatten verlieben können. Kurz, es gab viel Gerede. Es ist mir zuverlässig bekannt, daß es in unserer Stadt speziell um Mitja in mehreren Familien sogar zu ernstlichen Konflikten kam. Viele Damen stritten mit ihren Männern über diesen schrecklichen Prozeß, und es war unter diesen Umständen nur natürlich, daß die Männer dieser Damen den Gerichtssaal in einer Stimmung betraten, die dem Angeklagten kaum wohlgeneigt, sondern geradezu feindlich war. Und überhaupt konnte man mit aller Entschiedenheit feststellen, daß im Gegensatz zu den Damen das ganze männliche Element gegen den Angeklagten eingenommen war. Man sah strenge, finstere Gesichter; andere, und zwar weitaus die meisten, waren geradezu zornig. Allerdings hatte es Mitja während seines Aufenthalts hier auch verstanden, viele von den Männern persönlich zu beleidigen. Natürlich waren auch manche Besucher in beinahe fröhlicher Stimmung; sie standen dem Schicksal Mitjas teilnahmslos gegenüber, interessierten sich jedoch lebhaft für die vorliegende Prozeßsache. Alle beschäftigten sich mit dem mutmaßlichen Ausgang des Prozesses, und die Mehrzahl der Männer wünschte eine Bestrafung des Verbrechers, ausgenommen höchstens die Juristen, die ihr Interesse nicht der moralischen, sondern der formaljuristischen Seite des Prozesses zuwandten. Die Ankunft des berühmten Fetjukowitsch rief gewaltige Aufregung hervor. Sein Talent war überall bekannt, und es war nicht das erstemal, daß er in der Provinz als Verteidiger in aufsehenerregenden Kriminalprozessen auftrat. Nach seiner Verteidigung wurden solche Prozesse stets in ganz Rußland berühmt und blieben lange im Gedächtnis. Auch über unseren Staatsanwalt und den Gerichtspräsidenten waren Anekdoten im Umlauf. Es wurde erzählt, unser Staatsanwalt zittere vor der Konfrontation mit Fetjukowitsch; sie seien schon von Petersburg her alte Feinde, seit dem Beginn ihrer Karriere; unser ehrgeiziger Ippolit Kirillowitsch, der sich schon seit seiner Petersburger Zeit ständig dadurch beleidigt fühle, daß seine Talente nicht gebührend geschätzt würden, habe bei dem Karamasow-Prozeß von neuem Mut gefaßt und hoffe sogar, durch diesen Prozeß seine ins Stocken gekommene Karriere wieder in Gang zu bringen, doch da habe ihm Fetjukowitschs Eingreifen einen Schreck eingejagt. Allerdings waren diese Urteile nicht ganz gerecht. Unser Staatsanwalt gehörte nicht zu denjenigen Charakteren, die angesichts einer Gefahr mutlos werden, sondern im Gegenteil zu denen, deren Ehrgeiz wächst und sozusagen Schwingen bekommt, je größer die Gefahr wird. Überhaupt muß man wissen, daß unser Staatsanwalt ein sehr hitziges Temperament hatte und krankhaft empfindlich war. In manchen Prozeß legte er seine ganze Seele hinein und führte ihn so, als ob von dessen Ausgang sein Schicksal und sein Vermögen abhinge. In der juristischen Welt wurde viel darüber gelacht; denn unser Staatsanwalt hatte durch diese seine Eigenschaft einen gewissen Ruf erlangt, der erheblich größer war, als man in Anbetracht seiner bescheidenen Stellung an unserem Gericht annehmen konnte. Besonders lachte man über seine Leidenschaft für die Psychologie. Meiner Ansicht nach befanden sie sich alle im Irrtum. Ich meine, unser Staatsanwalt verdiente, als Mensch und als Charakter weit ernster genommen zu werden, als viele glaubten. Doch dieser kränkliche Mensch hatte es schon zu Beginn seiner Laufbahn nicht verstanden, sich eine Stellung zu schaffen, und es auch in seinem ganzen späteren Leben nicht gelernt.
Was schließlich den Präsidenten unseres Gerichts betrifft, so kann man von ihm nur sagen, daß er ein gebildeter, humaner Mensch war, der in seinem Fach solide praktische Kenntnisse besaß und Verständnis für die modernsten Ideen hatte. Er war ziemlich ehrgeizig, machte sich aber um seine Karriere nicht viel Sorgen. Das Hauptziel seines Lebens bestand darin, ein Vorkämpfer des Fortschritts zu sein. Außerdem hatte er Beziehungen und Vermögen. Dem Karamasow-Prozeß brachte er, wie sich nachher herausstellte, warmes Interesse entgegen, dies aber nur im allgemeinen Sinn. Was ihn interessierte, war die Möglichkeit einer solchen Tat; es machte ihm Freude, sie zu klassifizieren, zu untersuchen, inwiefern sie ein Produkt unserer sozialen Zustände und
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