Die Brüder Karamasow
Hoffnung auf Hilfe um Geld zu bitten. Diese Erzählung hatte etwas Erschütterndes. Ein kaltes Zittern überlief mich beim Zuhören; der Saal war totenstill und fing jedes Wort auf. Was man da hörte, war ohne Beispiel. Selbst von einem selbstbewußten und hochmütig-stolzen Mädchen wie ihr hatte man so eine erstaunliche offenherzige Aussage, ein solches Opfer, eine solche Selbstvernichtung unmöglich erwarten können. Und wozu? Für wen? Um den zu retten, der ihr treulos geworden war und sie tief gekränkt hatte, um wenigstens eine Kleinigkeit zu seiner Rettung beizutragen, indem sie eine Tat von ihm erzählte, die einen guten Eindruck machte! Und wirklich: das Bild eines Offiziers, der alles, was ihm im Leben geblieben ist, seine letzten fünftausend Rubel, hingibt und sich ehrerbietig vor einem unschuldigen Mädchen verneigt, dieses Bild wirkte sehr sympathisch und anziehend, aber ... Mein Herz zog sich schmerzlich zusammen. Ich hatte das Gefühl, daß daraus später eine arge Verleumdung entstehen würde – und die ist dann auch entstanden. Mit boshaftem Lachen erzählte man später in der ganzen Stadt, die Erzählung sei vielleicht nicht ganz genau, nämlich an der Stelle, wo der Offizier das junge Mädchen angeblich nur mit einer respektvollen Verbeugung entlassen habe. Man deutete an, hier sei womöglich etwas ausgelassen. »Doch auch wenn nichts ausgelassen wäre, wenn sich alles wirklich so zugetragen hätte«, sagten sogar unsere geachtetsten Damen, »bliebe dahingestellt, ob das für ein junges Mädchen eine anständige Handlungsweise war, selbst wenn es sich um die Rettung des Vaters handelte.« Hatte Katerina Iwanowna bei ihrem Verstand, bei ihrem ungewöhnlichen Scharfblick etwa wirklich nicht vorhergesehen, daß die Leute so reden würden? Unzweifelhaft hatte sie es vorhergesehen und sich trotzdem entschlossen, alles zu sagen ... Selbstverständlich tauchten alle diese unsauberen Zweifel an der Wahrheit ihrer Erzählung erst später auf; im ersten Augenblick waren alle erschüttert. Die Mitglieder des Gerichtes hörten Katerina Iwanowna mit ehrerbietigem, ja fast verschämtem Schweigen zu. Der Staatsanwalt erlaubte sich keine einzige weitere Frage über diesen Gegenstand. Fetjukowitsch machte ihr eine tiefe Verbeugung. Oh, er triumphierte beinahe. Viel war gewonnen: Ein Mensch, der in einem edlen Gefühl seine letzten fünftausend Rubel hingibt und dann derselbe Mensch, der seinen Vater bei Nacht ermordet, um ihm dreitausend Rubel zu rauben: das war denn doch unvereinbar. Wenigstens die Anklage wegen Raubes konnte Fetjukowitsch jetzt als erledigt betrachten. Ein ganz neues Licht hatte sich auf einmal über den »Fall« ergossen; eine gewisse Sympathie für Mitja regte sich. Er jedoch ... Von ihm erzählte man, er sei während Katerina Iwanownas Aussage ein- oder zweimal von seinem Platz aufgesprungen, habe sich dann wieder auf die Bank zurücksinken lassen und das Gesicht mit beiden Händen bedeckt. Als sie geendet hatte, rief er plötzlich, die Arme nach ihr ausstreckend: »Katja, warum hast du mich zugrunde gerichtet?«
Er schluchzte so laut, daß es durch den ganzen Saal zu hören war. Allerdings gewann er sehr schnell die Herrschaft über sich zurück und rief wieder: »Jetzt bin ich verurteilt!«
Dann aber biß er die Zähne zusammen, kreuzte die Arme über der Brust und schien in dieser Stellung auf seinem Platz zu erstarren. Katerina Iwanowna blieb im Saal und setzte sich auf den ihr angewiesenen Stuhl; sie war blaß und saß mit gesenktem Kopf da. Diejenigen, die sich in ihrer Nähe befanden, erzählten später, sie habe noch lange Zeit wie im Fieber gezittert.
Nach ihr erschien Gruschenka, um vernommen zu werden.
Ich nähere mich jetzt der Katastrophe, die plötzlich hereinbrach und Mitja vielleicht tatsächlich zugrunde richtete. Denn ich bin überzeugt, und das sagten nachher auch alle anderen, auch alle Juristen. Wäre dieser Vorfall nicht eingetreten, hätte man dem Verbrecher mindestens mildernde Umstände zugebilligt. Aber davon gleich; zuvor nur noch einige Worte über Gruschenka. Sie erschien im Saal ebenfalls ganz in Schwarz, mit ihrem schönen schwarzen Schal um die Schultern. Mit ihrem leichten, unhörbaren Gang, sich ein wenig hin und her wiegend, wie etwas volle Frauen manchmal gehen, näherte sie sich der Balustrade, wobei sie unverwandt zum Präsidenten und nicht einen Moment nach rechts oder links schaute. Meiner Ansicht nach war sie in diesem Augenblick sehr schön und
Weitere Kostenlose Bücher