Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Brüder Karamasow

Die Brüder Karamasow

Titel: Die Brüder Karamasow Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovic Dostoevskij
Vom Netzwerk:
das arme Hündchen, wie festgestellt wurde, überhaupt nur zwei- oder dreimal in der ganzen Nacht gebellt. Und das ist ganz natürlich: Jemand schläft und hört auf einmal ein Stöhnen; er wacht ärgerlich auf, schläft aber augenblicklich wieder ein. Nach zwei Stunden wieder Stöhnen, er wacht wieder auf und schläft wieder ein; endlich nochmals Stöhnen, und zwar wieder nach zwei Stunden, im ganzen dreimal in der Nacht. Am Morgen steht der Schläfer auf und beklagt sich, daß jemand die ganze Nacht gestöhnt und ihn fortwährend geweckt habe. Und es muß ihm auch so vorkommen: In den Zwischenzeiten hat er geschlafen, jedesmal zwei Stunden lang, und er erinnert sich ihrer nicht; er erinnert sich nur an die Minuten seines Wachens, und da scheint es ihm, als sei er die ganze Nacht über geweckt worden. ›Aber warum‹, ruft die Anklage, ›hat Smerdjakow auf dem hinterlassenen Zettel kein Geständnis abgelegt? Zu dem einen reichte sein Gewissen aus, aber zu dem anderen nicht.‹ Bitte erlauben Sie: Gewissen, das ist schon Reue. Und Reue fühlte dieser Selbstmörder wohl gar nicht, sondern nur Verzweiflung. Verzweiflung und Reue, das sind zwei ganz verschiedene Dinge. Die Verzweiflung kann boshaft und unversöhnlich sein, und der Selbstmörder konnte in dem Augenblick, als er Hand an sich legte, doppelt diejenigen hassen, die er sein Leben lang beneidet hatte. Meine Herren Geschworenen, hüten Sie sich vor einem Justizirrtum! Inwiefern ist alles das, was ich Ihnen soeben dargelegt habe, unwahrscheinlich? Finden Sie in meiner Auseinandersetzung einen Fehler, eine Unmöglichkeit, eine Sinnlosigkeit? Falls aber an meinen Annahmen auch nur ein Schatten von Möglichkeit, auch nur ein Schatten von Wahrscheinlichkeit ist, so sollten Sie sich einer Verurteilung enthalten. Und ist hier etwa nur ein Schatten vorhanden? Ich schwöre bei allem, was heilig ist: Ich glaube vollkommen an meine Auffassung des Mordes, die ich Ihnen soeben vorgetragen habe. Was mich jedoch ganz besonders aufregt und aus der Fassung bringt, ist immer ein und derselbe Gedanke: daß es in der ganzen Masse von Tatsachen, die die Anklage auf den Angeklagten gehäuft hat, auch nicht eine einzige gibt, die irgendwie zwingend und unwiderleglich wäre, sondern daß der Unglückliche lediglich durch das Zusammentreffen dieser Tatsachen zugrunde geht! Ja, dieses Zusammentreffen ist furchtbar: das von den Fingern herabfließende Blut, die blutige Wäsche, die dunkle, von dem Schrei ›Vatermörder!‹ durchhallte Nacht und der Schreiende, der mit eingeschlagenem Schädel niederstürzt, dann diese Masse von Äußerungen, Aussagen, Gebärden, Ausrufen – oh, das übt eine so gewaltige Wirkung aus und kann so leicht die Überzeugung bestechen. Aber sollte es etwa auch Ihre Überzeugung bestechen können, meine Herren Geschworenen? Denken Sie daran, daß Ihnen eine unbegrenzte Macht zu binden und zu lösen gegeben ist. Und je größer diese Macht ist, desto furchtbarer ist ihr Gebrauch! Ich nehme nicht ein Jota von dem zurück, was ich soeben gesagt habe; aber sei es drum, meinetwegen, ich will mich für einen Augenblick auf den Standpunkt der Anklage stellen und annehmen, daß mein unglücklicher Klient seine Hände mit dem Blut seines Vaters befleckt hat. Das ist nur eine Annahme, ich wiederhole es! Ich zweifle keinen Augenblick an seiner Unschuld; aber mag es sein, ich will annehmen, daß mein Angeklagter des Vatermordes schuldig ist. Selbst wenn ich eine solche Annahme für zulässig hielte, hören Sie bitte dennoch, was ich Ihnen sagen möchte. Es ist mir ein Herzensbedürfnis, Ihnen noch etwas zu sagen; denn ich sehe voraus, daß auch ein jeder von Ihnen in seinem Herzen und seinem Geist einen großen Kampf auszufechten haben wird ... Verzeihen Sie mir dieses Wort von Ihrem Herzen und Ihrem Geist, meine Herren Geschworenen! Aber ich will wahrhaft und aufrichtig sein bis zum Schluß. Lassen Sie uns bitte alle aufrichtig sein!
    An dieser Stelle unterbrach den Verteidiger ein ziemlich lautes Beifallklatschen. In der Tat hatte er seine letzten Worte mit dem Unterton einer solchen Aufrichtigkeit gesprochen, daß alle das Gefühl hatten, er habe vielleicht wirklich etwas Besonderes zu sagen, und zwar das Wichtigste. Als jedoch der Präsident das Beifallklatschen hörte, drohte er laut, den Gerichtssaal »räumen« zu lassen, falls sich »etwas Derartiges« wiederholen sollte. Alles wurde still, und Fetjukowitsch sprach ganz anders weiter, als er bisher gesprochen

Weitere Kostenlose Bücher