Die Brüder Karamasow
üble Taten und reden viele üble Worte. Aber gerade darum sollten wir einen geeigneten Augenblick, da wir zusammen sind, nutzen, um einander ein gutes Wort zu sagen. So will auch ich es tun! Solange ich an diesem Platz stehe, will ich den mir zur Verfügung stehenden Augenblick nutzen. Nicht ohne Absicht ist uns diese Tribüne durch den höchsten Willen verliehen worden – von ihr hört uns ganz Rußland. Ich rede nicht nur zu den hiesigen Vätern, ich rufe allen Vätern zu: ›Ihr Väter, reizet eure Kinder nicht zum Zorn!‹ Ja, laßt uns zuerst selbst das Gebot Christi erfüllen und erst dann dasselbe auch von unseren Kindern verlangen! Sonst sind wir nicht Väter, sondern Feinde unserer Kinder, und sie sind nicht unsere Kinder, sondern unsere Feinde, und wir selbst haben sie zu unseren Feinden gemacht! ›Mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden!‹ Das sage nicht ich, das schreibt das Evangelium vor. Wir sollen mit dem Maß messen, mit dem auch uns gemessen wird. Wie kann man den Kindern einen Vorwurf machen, wenn sie uns mit unserem Maß messen? Vor kurzem kam in Finnland ein Mädchen, eine Dienstmagd, in den Verdacht, heimlich ein Kind geboren zu haben. Man ging der Sache nach und fand auf dem Dachboden in einer Ecke unter den Ziegeln ihren Koffer, von dem niemand etwas gewußt hatte; man öffnete ihn und zog den Leichnam eines neugeborenen Kindes heraus, das sie getötet hatte. In demselben Koffer fand man auch die Skelette zweier anderer Kinder, die sie schon früher geboren und ebenfalls gleich bei der Geburt getötet hatte, was sie auch gestand. Meine Herren Geschworenen, war das eine Mutter ihrer Kinder? Ja, sie hat sie geboren – aber ist sie auch ihre Mutter? Wagt jemand von uns, auf sie den heiligen Namen Mutter anzuwenden? Lassen Sie uns mutig sein, meine Herren Geschworenen, lassen Sie uns sogar dreist sein; es ist unsere Pflicht, uns im gegenwärtigen Augenblick nicht vor gewissen Worten und Gedanken zu fürchten, wie bei unserem großen Dramatiker Ostrowski, jene Moskauer Kaufmannsfrauen, die sich vor den Worten ›Metall‹ und ›Schwefel‹ fürchten. Nein, beweisen wir vielmehr, daß der Fortschritt der letzten Jahre auch auf unsere geistige Entwicklung fördernd eingewirkt hat, und sagen wir es geradeheraus: Wer ein Kind gezeugt hat, ist noch nicht dessen Vater! Vater ist, wer ein Kind gezeugt hat und sich darum verdient gemacht hat! Oh, es gibt freilich auch eine andere Bedeutung, eine andere Erklärung des Wortes Vater, die verlangt, daß mein Vater, auch wenn er ein Unmensch ist und seinen Kindern Böses angetan hat, dennoch mein Vater bleibt – nur deswegen, weil er mich gezeugt hat. Doch diese Bedeutung ist sozusagen schon mystisch; ich begreife sie nicht mit dem Verstand, sondern nehme sie nur durch den Glauben hin, oder richtiger gesagt, auf Treu und Glauben, so wie vieles andere, was ich zwar nicht begreife, was mir aber dennoch die Religion zu glauben befiehlt. Doch das mag dann außerhalb des praktischen Lebensbereichs bleiben. Innerhalb des praktischen Lebensbereichs dagegen, der nicht nur seine Rechte hat, sondern uns auch große Verpflichtungen auferlegt, innerhalb dieses Bereichs ist es, sofern wir humane Menschen und Christen sein wollen, unsere Pflicht und Schuldigkeit, nur solchen Anschauungen zu huldigen, die durch Vernunft und Erfahrung bestätigt und durch den Schmelzofen der Kritik hindurchgegangen sind – kurz, vernünftig wie im Schlaf oder im Fieberwahn, damit wir keinem Mitmenschen Schaden zufügen und keinen Mitmenschen quälen und zugrunde richten. Sehen Sie, dann wird das auch eine echt christliche Handlungsweise sein, keine mystische, sondern eine vernünftige und wahrhaft menschenfreundliche Handlungsweise ...«
An dieser Stelle wollte aus vielen Enden des Saales Beifall losbrechen, doch Fetjukowitsch machte eine abwehrende Handbewegung, als wollte er inständig bitten, ihn nicht zu unterbrechen, sondern ihn zu Ende reden zu lassen. Alle verstummten sogleich. Der Redner fuhr fort:
»Glauben Sie etwa, meine Herren Geschworenen, daß solche Fragen unseren Kindern fremd bleiben können, sagen wir, im Jünglingsalter, wenn sie nachzudenken beginnen? Nein, das ist ausgeschlossen, und wir wollen keine unmögliche Zurückhaltung von ihnen verlangen! Der Anblick eines unwürdigen Vaters, besonders im Vergleich mit den würdigen Vätern anderer, gleichaltriger Kinder, drängt einem jungen Menschen unwillkürlich peinliche Fragen auf. Man antwortet
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