Die Brüder Karamasow
oh, alles bewirkte nur der Anblick des Vaters, der ihn von seiner Kindheit an gehaßt, sich als sein Feind erwiesen, ihn benachteiligt hatte und jetzt sein gräßlicher Nebenbuhler war! Ein Gefühl des Hasses ergriff ihn unwillkürlich und unwiderstehlich, zum Überlegen war keine Zeit: alles wurde augenblicklich in ihm lebendig! Das war ein Affekt von Irrsinn und Geistesstörung, aber auch ein Affekt der Natur, welche die Verletzung ihrer ewigen Rechte stets unaufhaltbar und unbewußt zu rächen pflegt. Doch der Mörder hat auch da nicht gemordet – das behaupte ich mit lauter Stimme! Nein, er hat nur voller Ekel und Empörung eine ausholende Bewegung mit dem Stößel gemacht, ohne die Absicht, einen Mord zu begehen, und ohne zu wissen, daß er einen Mord beging. Hätte er diesen verhängnisvollen Stößel nicht in der Hand gehabt, so hätte er den Vater zwar vielleicht geprügelt, aber nicht erschlagen. Als er weglief, wußte er nicht, ob der alte Mann, den er zu Boden geschlagen hatte, tot war. Ein solcher Mord ist auch kein Vatermord. Nein, die Ermordung eines solchen Vaters kann man nicht Vatermord nennen. Ein solcher Mord kann nur auf Grund einer veralteten Ansicht als Vatermord gelten. Aber hat denn mein Klient diesen Mord überhaupt begangen? Das frage ich Sie immer wieder aus tiefster Seele. Meine Herren Geschworenen, wenn wir ihn jetzt verurteilen, so wird er sagen: ›Diese Menschen haben für mein Schicksal, für meine Erziehung, für meine Bildung nichts getan. Nichts, um mich zu bessern, um mich zu einem Menschen zu machen. Diese Menschen haben mich nicht gespeist und mich nicht getränkt und mich, den Nackten, im Gefängnis nicht, besucht. Statt dessen haben sie mich zur Zwangsarbeit geschickt. Ich bin mit ihnen quitt, bin ihnen nichts mehr schuldig, bin überhaupt bis in alle Ewigkeit niemand mehr etwas schuldig. Sie sind böse, und ich werde auch böse sein! Sie sind grausam, und ich werde auch grausam sein!‹ Das ist es, was er sagen wird, meine Herren Geschworenen! Und ich schwöre Ihnen, durch Ihren Schuldspruch werden Sie ihm seine Last nur erleichtern! Sie werden ihm sein Gewissen erleichtern; er wird das von ihm vergossene Blut verfluchen, aber er wird nicht bedauern, es vergossen zu haben! Und gleichzeitig werden Sie in ihm den noch potentiell vorhandenen Menschen vernichten, denn er wird böse und blind bleiben sein Leben lang. Wollen Sie ihn jedoch schwer und hart bestrafen, mit der schrecklichsten Strafe, die man sich denken kann, aber so, daß Sie seine Seele retten und für alle Zeit erneuern? Wenn Sie das wollen, dann erdrücken Sie ihn durch Ihr Mitleid! Sie werden sehen, Sie werden hören, wie seine Seele zusammenfahren und erschrecken wird. ›Daß mir diese Gnade erwiesen wird, daß mir so viel Liebe zuteil wird! Bin ich denn dessen würdig?‹ wird er ausrufen. Oh, ich kenne dieses Herz, dieses wilde, aber edle Herz, meine Herren Geschworenen! Es wird sich dankbar vor Ihrer schönen Tat neigen, es wird nach einer großen Tat der Liebe dürsten, es wird entbrennen und wiederauferstehen für immer. Es gibt Seelen, die in ihrer Beschränktheit die ganze Welt beschuldigen. Aber erdrücken Sie diese Seele durch Ihr Mitleid, erweisen Sie ihr Liebe, und sie wird ihre Tat verfluchen, denn es sind viele gute Keime in ihr. Die Seele wird sich weiten und erkennen, wie barmherzig Gott ist und wie gut und gerecht die Menschen sind. Die Reue und die unermeßliche Dankesschuld, die von nun an auf ihm lastet, wird ihn erschrecken und niederdrücken. Und er wird dann nicht sagen können: ›Ich bin quitt mit ihnen‹, sondern: ›Ich bin vor allen Menschen schuldig und aller Menschen unwürdig!‹ Unter Tränen der Reue und brennender qualvoller Rührung wird er ausrufen: ›Die Menschen sind besser als ich! Sie wollen mich nicht zugrunde richten, sondern retten!‹ Oh, es ist für Sie so leicht, diese Handlung der Barmherzigkeit auszuüben, denn angesichts des Fehlens aller auch nur einigermaßen triftigen Beweise wird es Ihnen sehr schwerfallen zu verkünden: ›Jawohl – schuldig!‹ Es ist besser, zehn Schuldige ungestraft zu lassen, als einen Unschuldigen zu bestrafen – hören Sie nicht diese erhabene Stimme aus dem vorigen Jahrhundert unserer ruhmvollen Geschichte? Mir unbedeutendem Menschen steht es nicht zu, Sie daran zu erinnern, daß sich die russische Justiz nicht darauf beschränkt zu strafen, sondern auch den verlorenen Menschen zu retten sucht! Mögen bei anderen Völkern
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