Die Brueder Karamasow
Aljoscha wandte seine Augen schnell ab, und schon allein an der Miene des Jünglings erkannte Vater Paissi, was für eine starke Veränderung in diesem Augenblick in ihm vorging.
»Hast auch du dich verführen lassen?« rief Vater Paissi. »Gehörst auch du zu den Kleingläubigen?« fügte er traurig hinzu.
Aljoscha blieb stehen und sah Vater Paissi eigentümlich unsicher an, schlug dann aber die Augen erneut rasch nieder. Er stand halb abgewandt da und wandte sein Gesicht dem Fragenden nicht zu.
Vater Paissi beobachtete ihn aufmerksam.
»Wohin eilst du denn? Es wird zum Gottesdienst geläutet.« fragte er weiter.
Aljoscha gab wieder keine Antwort.
»Oder verläßt du die Einsiedelei? Wie kannst du das tun, ohne um Erlaubnis zu fragen und ohne um den Segen zu bitten?«
Aljoscha lächelte plötzlich mit schiefem Mund und schaute auf sehr seltsame Art den Priestermönch an, dem ihn sein einstiger Führer, der bisherige Beherrscher seines Herzens und seines Verstandes, sein geliebter Starez, sterbend anvertraut hatte. Doch dann machte er plötzlich wieder, ohne zu antworten, eine Handbewegung, als würde er alles von sich abschütteln und sich um keinen Respekt mehr kümmern, und ging mit schnellen Schritten auf das Tor der Einsiedelei zu.
»Du wirst noch zurückkehren!« flüsterte Vater Paissi und blickte ihm erstaunt und betrübt hinterher.
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2.
Der gewisse Augenblick
Vater Paissi irrte sich allerdings wirklich nicht, wenn er sich sagte, sein »lieber Junge« werde wieder zurückkehren; er hatte vielleicht Aljoschas wahre Seelenstimmung durchschaut – zwar nicht völlig, aber doch mit beträchtlichem Scharfblick. Dennoch bekenne ich offen, daß es selbst mir schwerfallen würde, den Sinn und die Bedeutung dieses seltsamen, unbestimmten Augenblicks im Leben des von mir so geliebten jungen Helden meiner Erzählung klar und genau darzulegen.
Auf Vater Paissis bekümmerte Frage: »Gehörst du auch zu den Kleingläubigen?« könnte ich freilich an Aljoschas Stelle mit Entschiedenheit antworten: Nein, er gehörte nicht zu den Kleingläubigen! Im Gegenteil: seine ganze Verwirrung rührte gerade daher, daß er sehr gläubig war. Doch die Verwirrung, die ihn befallen hatte und noch andauerte, war so qualvoll, daß Aljoscha noch lange danach diesen traurigen Tag für einen der schmerzlichsten und verhängnisvollsten seines Lebens hielt. Wenn man mich aber geradezu fragte: »Konnte dieser Gram und diese Unruhe in seiner Seele wirklich nur daher rühren, daß der Leichnam seines Starez, statt unverzüglich Heilungen zu bewirken, frühzeitig verweste?«, so antworte ich ohne Umschweife: Ja, es war tatsächlich so!
Ich möchte den Leser nur bitten, sich noch nicht vorschnell über das reine Herz meines Jünglings lustig zu machen. Ich selbst habe jedoch ganz und gar nicht die Absicht, für ihn um Verzeihung nachzusuchen oder seinen naiven Glauben etwa mit seiner Jugend oder den geringen Erfolgen in den früher von ihm betriebenen Wissenschaften zu entschuldigen und zu rechtfertigen. Ich tue vielmehr das Entgegengesetzte und erkläre ganz entschieden, daß ich vor der natürlichen Beschaffenheit seines Herzens aufrichtige Hochachtung empfinde. Gewiß, mancher junge Mensch, der nur mit Vorsicht Eindrücke in sich aufnimmt und schon imstande ist, statt heiß nur noch lau zu lieben, mit dem zwar korrekten, aber für sein Alter zu vernünftigen und darum geringwertigen Verstand, hätte das vermieden, was mit meinem Helden geschah; doch manchmal ist es wirklich achtbarer, sich einer unverständigen, aber aus Liebe geborenen Schwärmerei hinzugeben, als es nicht zu tun. Und das gilt ganz besonders für die Jugend: Ein junger Mensch, der schon ständig alles mit dem Verstand abwägt, ist nicht viel wert und berechtigt zu keinen großen Hoffnungen – das ist meine Meinung!
Hier werden kluge Leute möglicherweise einwenden: »Es kann doch nicht jeder junge Mensch an solche Torheiten glauben, und Ihrer ist kein Vorbild für die anderen!« Hierauf antworte ich wieder: Ja, mein Jüngling glaubte fest und unerschütterlich – und ich werde dennoch nicht für ihn um Verzeihung bitten.
Ich habe zwar eben gesagt, und vielleicht war es etwas übereilt, ich würde die Handlungsweise meines Helden nicht erklären, entschuldigen oder rechtfertigen; aber ich sehe, daß ich zum Verständnis der weiteren Erzählung dies und jenes doch erklären muß. Vor allem dies: Um Wunder ging es Aljoscha hier eigentlich nicht. Er hatte nicht
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