Die Brueder Karamasow
unaufhörlich fragte, warum er damals, in der letzten Nacht, die er vor seiner Abreise in Fjodor Pawlowitschs Haus zubrachte, leise wie ein Dieb auf die Treppe hinausgegangen war und gelauscht hatte, was sein Vater unten tat. Warum hatte er sich später nur angewidert daran erinnert? Warum hatte ihn am anderen Morgen unterwegs eine solche Niedergeschlagenheit überkommen? Und warum hatte er, als er in Moskau ankam, zu sich gesagt: »Ich bin ein Schurke"? Und er stellte sich vor, daß er um dieser quälenden Gedanken willen am Ende sogar Katerina Iwanowna vergessen könnte, mit solcher Stärke hatten sie ihn auf einmal wieder gepackt! Gerade als er darüber nachdachte, begegnete er auf der Straße Aljoscha. Er hielt ihn sofort an und legte ihm ohne weiteren Umstand die Frage vor: »Erinnerst du dich? Als damals nach dem Mittagessen Dmitri ins Haus stürzte und den Vater schlug, damals sagte ich dir auf dem Hof, ich behielte mir das Recht, etwas zu wünschen, vor. Sag mal, hast du damals gedacht, daß ich den Tod des Vaters wünschte, oder hast du es nicht gedacht?«
»Ja, ich habe es gedacht«, antwortete Aljoscha leise.
»Es war übrigens auch so, und war nicht schwer zu erraten. Aber ist dir damals nicht auch der Gedanke gekommen, daß mein Wunsch speziell dahin ging, es sollte ›ein Reptil das andere auffressen‹, das heißt, kein anderer als Dmitri sollte den Vater totschlagen, und zwar so bald wie möglich – wobei ich selbst nicht abgeneigt wäre, dabei Vorschub zu leisten?«
Aljoscha wurde ein wenig blaß und blickte dem Bruder stumm in die Augen.
»Sprich doch!« rief Iwan! »Ich will ganz genau wissen, was du damals gedacht hast. Die Wahrheit will ich hören, die Wahrheit!« Er atmete schwer und starrte Aljoscha schon im voraus böse an.
»Verzeih mir, auch das habe ich damals gedacht«, flüsterte Aljoscha und verstummte, ohne ein milderndes Wort hinzuzufügen.
»Ich danke dir!« antwortete Iwan kurz, ließ Aljoscha stehen und ging mit raschen Schritten davon.
Seitdem bemerkte Aljoscha, daß sich Iwan in schroffer Weise von ihm fernhielt und ihn so gar nicht mehr mochte, so daß er kurz darauf von sich aus die Besuche bei Iwan einstellte. Unmittelbar nach dieser Begegnung mit Aljoscha begab sich Iwan Fjodorowitsch, ohne erst nach Hause zu gehen, plötzlich abermals zu Smerdjakow.
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7.
Zweiter Besuch bei Smerdjakow
Smerdjakow war damals schon aus dem Krankenhaus entlassen. Iwan Fjodorowitsch kannte seine neue Wohnung in jenem schiefen kleinen Häuschen aus unverschalten Balken, das nur zwei durch einen Flur getrennte Stuben enthielt. In der einen Stube wohnte Marja Kondratjewna mit ihrer Mutter, in der anderen für sich allein Smerdjakow. Gott weiß, unter welchen Bedingungen er bei ihnen wohnte, ob umsonst oder zur Miete. Später hieß es, er hätte sich als Marja Kondratjewnas Bräutigam bei ihnen niedergelassen und einstweilen gratis gelebt. Mutter wie Tochter schätzten ihn sehr und betrachteten ihn als ein weit über ihnen stehendes Wesen.
Nachdem Iwan Fjodorowitsch geklopft hatte und ihm geöffnet worden war, begab er sich auf Marja Kondratjewnas Weisung direkt in die links gelegene »gute Stube«, die Smerdjakow bewohnte. In dieser Stube stand ein Kachelofen, der jetzt stark geheizt war. Die Wände waren mit himmelblauen, allerdings völlig zerfetzten Tapeten geschmückt, und darunter in den Holzritzen wimmelte es von Schaben in solcher Menge, daß ein unaufhörliches Rascheln zu hören war. Das Mobiliar war nur spärlich: zwei Bänke an den beiden Wänden und zwei Stühle am Tisch. Der Tisch, obwohl nur ein einfacher Holztisch, war mit einer rotgemusterten Decke bedeckt. An den beiden kleinen Fenstern stand ein Blumentopf mit Geranien. In der Ecke war ein Schrein mit Heiligenbildern angebracht. Auf dem Tisch stand ein kleiner, stark verbeulter Samowar aus Messing und ein Präsentierteller mit zwei Tassen. Seinen Tee hatte Smerdjakow jedoch bereits getrunken, und der Samowar war erloschen. Er selbst saß am Tisch auf einer Bank, blickte in ein Heft und schrieb etwas mit der Feder. Ein Fläschchen mit Tinte stand neben ihm, ebenso ein niedriger eiserner Leuchter, letzterer sogar mit Stearinkerze. Iwan Fjodorowitsch sah sofort an Smerdjakows Gesicht, daß er sich von seiner Krankheit wieder völlig erholt hatte. Sein Gesicht war frischer und voller geworden, die Tolle sorgsam in die Höhe gekämmt, die Schläfenhaare pomadisiert. Er saß in einem bunten, wattierten Schlafrock da,
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