Die Brüder Karamasow
ein.
»Das gnädige Fräulein hat vergessen, Ihnen dieses Briefchen von Frau Chochlakowa zu übergeben. Es liegt schon seit Mittag bei ihr.«
Aljoscha nahm mechanisch das kleine rosa Kuvert und steckte es beinahe unbewußt in die Tasche.
11. Noch ein verdorbener Ruf
Von der Stadt bis zum Kloster war es etwas über eine Werst. Aljoscha schritt eilig auf dem um diese Stunde menschenleeren Weg dahin. Es war schon fast Nacht geworden; auf dreißig Schritt Entfernung waren Gegenstände kaum zu unterscheiden. Auf der Hälfte des Weges lag eine Wegkreuzung. An dieser Kreuzung verbarg sich unter einer einzeln stehenden Weide eine Gestalt. Kaum hatte Aljoscha die Kreuzung erreicht, als die Gestalt auf ihn zustürzte und mit wütender Stimme rief: »Den Geldbeutel oder das Leben!«
»Du bist es, Mitja!« rief Aljoscha erstaunt, nachdem er sich von seinem Schrecken erholt hatte.
»Hahaha! Das hattest du nicht erwartet? Ich habe überlegt: Wo soll ich ihn erwarten? In der Nähe ihres Hauses? Von da gibt es drei Wege, ich hätte dich verfehlen können. Schließlich verfiel ich darauf, hier zu warten, weil du hier unter allen Umständen vorbeikommen mußt, einen anderen Weg zum Kloster gibt es nicht. So, nun berichte wahrheitsgemäß, zerquetsche mich wie eine Schabe ... Was hast du denn?«
»Nichts, Bruder ... Ich bin nur so erschrocken. Ach, Dmitri! Vorhin das Blut des Vaters ...« Aljoscha fing an zu weinen; er hatte schon lange weinen wollen, doch jetzt schien plötzlich in seiner Seele eine Saite gerissen zu sein. »Du hast ihn beinahe getötet ... Hast ihn verflucht ... Und jetzt hier ... Solche Scherze! ›Den Geldbeutel oder das Leben!‹«
»Das ist wohl unschicklich, wie? Das entspricht nicht den Umständen?«
»Nein, ich meine nur ...«
»Moment! Betrachte mal diese Nacht. Du siehst, wie finster sie ist, wie bewölkt der Himmel, wie stark der Wind. Ich versteckte mich hier unter der Weide und wartete auf dich, und weiß Gott, auf einmal dachte ich: ›Wozu soll ich mich noch länger quälen, worauf soll ich noch warten? Da ist der Baum, ein Taschentuch habe ich, ein Hemd auch. Ich kann sofort einen Strick drehen, zum Überfluß habe ich auch noch Hosenträger – ich will die Erde nicht länger belasten und durch meine unwürdige Existenz entehren!‹ Und siehe, da hörte ich dich kommen – Herrgott, es war mir, als ob plötzlich etwas zu mir niederflog. ›Also gibt es doch einen Menschen, den auch ich liebe‹, sagte ich mir. ›Da ist er, da ist dieser Mensch, mein liebes Brüderchen, er, den ich am meisten auf der Welt liebe, der einzige, den Ich liebe!‹ Und ich gewann dich auf einmal so lieb, liebte dich in diesem Augenblick so sehr, daß ich dachte: ›Soll ich ihm gleich um den Hals fallen?‹ Und da kam mir ein dummer Gedanke: ›Ich will ihm ein Vergnügen machen und ihn erschrecken.‹ Und da schrie ich wie ein Dieb: ›Den Geldbeutel her!‹ Verzeih mir den dummen Witz, die Albernheit ist nur äußerlich. Innen, in der Seele, ist auch bei mir alles anständig ... So, nun sag, zum Teufel, wie steht es? Was hat sie gesagt? Schmettre mich zu Boden, zertritt mich, schone mich nicht! Ist sie wütend geworden?«
»Nein, das nicht ... Es war ganz anders, Mitja. Da waren ... Ich habe sie beide zusammen ...«
»Wen – beide zusammen?«
»Gruschenka und Katerina Iwanowna.«
Dmitri Fjodorowitsch erstarrte.
»Unmöglich!« rief er. »Du redest Unsinn! Gruschenka bei ihr?«
Aljoscha erzählte alles, was sich von dem Augenblick an ereignet hatte, da er bei Katerina Iwanowna eingetreten war. Er erzählte wohl zehn Minuten lang, nicht gerade fließend und schön, aber klar, er hob die wichtigsten Worte, die wichtigsten Gesten heraus und schilderte deutlich, oft durch ein paar Worte, seine eigenen Gefühle.
Dmitri hörte schweigend zu und blickte in seltsamer Regungslosigkeit vor sich hin. Aljoscha jedoch merkte, daß er alles verstanden, den ganzen Hergang erfaßt hatte. Dmitris Gesicht wurde immer finsterer oder, besser, drohender. Er zog die Brauen zusammen und preßte die Zähne aufeinander, sein Blick schien noch unbeweglicher, starrer, furchtbarer zu werden ... Um so unerwarteter veränderte sich urplötzlich sein bis dahin zorniges, wildes Gesicht, die zusammengepreßten Lippen öffneten sich, und Dmitri Fjodorowitsch brach in ein hemmungsloses, ungekünsteltes Lachen aus. Er schüttelte sich buchstäblich vor Lachen und war lange Zeit außerstande, zu sprechen.
»Also sie hat ihr nicht die Hand
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