Rolf Torring 031 - Auf den Pfaden der Inkas
1. Kapitel. In Matchu-Picchtzu
Staunend betrachteten wir die riesige Mauer, die aus mächtigen Steinquadern gefügt war. Es war uns gar nicht faßbar, wie die alten Vorinkas die harten Steine derartig bearbeitet hatten, denn die Quadern waren so behauen und aneinander gepaßt, daß oft Ecken der Steine haarscharf in ausgearbeitete Vertiefungen der anderen Steine hineinpaßten.
Dabei sind die Steine nicht etwa rechtwinklig behauen, sondern weisen die wunderlichsten Formen auf, haben oft sechs und noch mehr Flächen mit schärfsten Winkeln, und stets greifen alle Steine so zusammen, daß kaum eine Nadel in ihre Fugen dringen kann.
„Ganz erstaunlich," sagte Rolf zu unserem neuen Begleiter, dem Professor Elias Thomsen, der es verstanden hatte, uns aus Mexico hierher nach Peru, in diese alte Ruinenstadt aus der Vorinkazeit zu schleppen. „Ich kann mir kaum vorstellen, wie die alten Ureinwohner dieses Landes diese harten Felsquadern so bearbeiten konnten."
„Sehen Sie," kicherte der alte Professor, „ich sagte Ihnen ja schon in Mexico, daß ich viel Interessantes zeigen würde. Gerade über die Bearbeitung dieser Steine existiert unter den Indianern eine Legende, die vielleicht, oder sagen wir ruhig, die bestimmt Aufschluß darüber gibt.
Es gibt nämlich hier einen Vogel, ,Pito' auf Deutsch 'Pfeifer', der seine Nester in den harten Felsen baut. Er feilt die Höhlungen mit seinem Schnabel in das harte Material."
„Aber das ist doch ganz ausgeschlossen," unterbrach ich den Professor, „ich kann doch kaum mit meinem Messer eine Spur auf dem Felsen hinterlassen. Dann müßte dieser Vogel ja einen Schnabel haben aus härtestem Stahl und eine ungeheure Kraft besitzen."
„Ja, ja, jetzt kommt ja das Interessanteste," sagte Thomson, „denn dieser Vogel soll ein Kraut benutzen, dessen Saft den Fels erweicht, so daß er sich bearbeiten läßt. Später wird er wieder völlig hart. Der ,Pito' ist schon oft mit diesem Kraut im Schnabel gesehen worden, aber kein Mensch kennt diese Pflanze, weiß auch nicht, wo er sie herholt. Nur die alten Vorinkas werden sie gekannt haben, deshalb konnten sie auch den Steinquadern diese wunderlichen Formen geben. Ich denke mir, daß sie die Steine kneten konnten, so weich wurden sie durch den Saft dieses Krautes."
Kopfschüttelnd überdachten wir das Gehörte und betrachteten dabei die mächtige Mauer, die nur mit Hilfe dieses Pflanzensaftes gefügt sein sollte. Die untergehende Sonne warf unsere Schatten auf die graue Fläche.
Plötzlich schreckten wir zusammen, denn da glitt blitzschnell ein anderer Schatten über die Mauer. Der Schatten eines Menschen. Schnell drehten wir uns um, aber wir sahen niemand.
„Sehen Sie," flüsterte der Professor, „ich erzählte Ihnen ja schon, daß ich vor zwei Jahren aus der anderen Ruinenstadt, die ich entdeckt habe, vor den Bewohnern, die ich aber nie von Angesicht gesehen habe, fliehen mußte, jetzt scheint es hier auch schon loszugehen."
„Vielleicht war es der Indianer, der hier als Wächter der Ruinenstadt ständig wohnt," meinte Rolf, „oder einer seiner Söhne."
„Ausgeschlossen," sagte Thomson bestimmt, „sie hätten sich nicht so schnell und geheimnisvoll entfernt, denn wir haben ihr Vertrauen durch das gestrige Konservenmahl, das wir ihnen gaben, gewonnen. Dem alten Wächter wäre es sogar bestimmt nicht unangenehm, wenn wir noch längere Zeit in dem alten Inkatempel, den er bewohnt, hausen würden, denn da würde doch stets etwas für ihn abfallen. Er hätte sich bestimmt sehen lassen. Nein, Herr Torring, hier sind schon wieder diese geheimnisvollen Leute am Werk, die mich vertrieben haben."
„Nun, hier können sie uns ja nichts tun," sagte Rolf ruhig, „denn diese alte Stadt Matchu-Picchtzu wird ja oft von Reisenden und Forschern besucht. Aber es kann sein, daß wir Schwierigkeiten haben, wenn wir die von Ihnen entdeckte Ruinenstadt besuchen. Vielleicht schlummern dort noch Geheimnisse, gegen deren Aufklärung oder Entdeckung sich die Nachkommen der alten Inkas mit allen Kräften sträuben. Jetzt macht mir die Sache wirklich sehr großen Spaß."
„Das freut mich, das freut mich wirklich," sagte Thomson händereibend, „dann brechen wir morgen früh sofort auf. Irgend einen Begleiter aus der Station unten brauchen wir nicht, ich kenne den Weg noch genau. In einem Tag können wir meine alte Stadt vielleicht erreichen."
„Nun, dann werden wir wohl zwei Tage gebrauchen," lächelte Rolf, „denn in den zwei Jahren, seit Sie
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