Die Brüder Karamasow
geradezu schwarz war. Sie lag auf den Knien und sah den Starez starr an. In ihrem Blick lag etwas wie Verzückung.
»Ja, von weit her, Väterchen, von weit her, dreihundert Werst von hier. Von weit her, Väterchen, von weit her«, erwiderte sie in singendem Tonfall und wiegte den Kopf gleichmäßig von einer Seite zur anderen; eine Wange stützte sie dabei mit der Hand. Ihre Worte klangen wie Klagegesang.
Es gibt beim einfachen Volk einen schweigenden und geduldigen Kummer; er tritt in sich zurück und bleibt stumm. Aber es gibt auch einen hervorbrechenden Kummer; der macht sich einmal in Tränen Luft und geht dann über in Klagegesang. Das ist besonders bei Frauen der Fall. Aber er ist nicht leichter als der schweigende Kummer. Der Klagegesang wirkt nur insofern lindernd, als er das Herz noch mehr zerreißt. Ein solcher Kummer verlangt nicht nach Trost; er nährt sich von dem Gefühl seiner Untröstbarkeit. Der Klagegesang entspringt dem Bedürfnis, die Wunde immer von neuem zu reizen.
»Du gehörst gewiß zum Kleinbürgerstand?« fuhr der Starez fort und sah die Frau teilnahmsvoll an.
»Wir sind aus der Stadt, Vater, aus der Stadt; wir stammen vom Land, aber wir sind jetzt Städter, wohnen in der Stadt. Um dich zu sehen, bin ich gekommen, Vater. Wir haben von dir gehört, Vater, wir haben von dir gehört. Mein kleines Söhnchen habe ich begraben, und da bin ich gegangen, zu Gott zu beten. In drei Klöstern bin ich gewesen, und nun haben mir die Leute geraten: Geh auch noch dorthin, Nastasjuschka! Das heißt, zu Ihnen, Täubchen, zu Ihnen. Da bin ich also hergekommen. Gestern war ich im Nachtgottesdienst, und heute bin ich zu Ihnen gekommen.«
»Worüber weinst du denn?«
»Um mein Söhnchen gräme ich mich, Väterchen. Beinahe drei Jahre war es alt, es fehlten nur drei Monate. Um mein Söhnchen quäle ich mich, Vater, um mein Söhnchen. Er war der letzte Sohn, der mir geblieben war. Vier hatten wir, Nikituschka und ich. Aber die Kinderchen bleiben nicht bei uns. Teuerster, sie bleiben nicht. Die drei ersten habe ich begraben und mich nicht allzusehr gegrämt, den letzten aber kann ich nicht vergessen. Er steht immer vor mir und weicht nicht. Er hat mir die Seele ausgesogen. Ich sehe seine Wäsche an, seine Hemdchen oder seine Stiefelchen und heule. Ich lege alles vor mich hin, was von ihm übriggeblieben ist; jedes Stück, das ihm gehört hat, sehe ich an und heule. Ich habe zu Nikituschka, meinem Mann, gesagt: ›Laß mich fort, lieber Mann, laß mich wallfahrten gehen!‹ Er ist Droschkenkutscher, wir sind nicht arm, wir betreiben das Fuhrgeschäft selbständig, alles gehört uns, die Pferde und der Wagen. Aber was haben wir jetzt von unserem Hab und Gut? Er hat in meiner Abwesenheit sicher angefangen zu trinken, mein Nikituschka, ganz sicher, das war auch früher schon so, kaum wandte ich den Rücken, wurde er schwach. Aber jetzt denke ich gar nicht an ihn. Jetzt bin ich schon drei Monate von Hause fort. Ich habe alles vergessen, alles vergessen und mag mich nicht erinnern; was sollte ich jetzt auch bei ihm? Ich habe mit ihm abgeschlossen, ganz und gar abgeschlossen, mit allen Menschen habe ich abgeschlossen. Und ich möchte jetzt mein Haus und mein Hab und Gut nicht sehen, am liebsten möchte ich jetzt überhaupt nichts sehen!«
»Hör zu, Mutter!« sagte der Starez. »In alten Zeiten sah einmal ein großer Heiliger im Gotteshaus so eine Mutter wie dich, die weinte auch um ihr einziges Kind, das Gott zu sich gerufen hatte. ›Weißt du denn nicht‹, sagte der Heilige ›wie keck diese Kindlein vor Gottes Thron sind? Niemand ist kecker als sie im Himmelreich. Du hast uns das Leben geschenkt, Herr, sagen sie zu Gott, aber kaum hatten wir es erschaut, hast du es uns schon wieder genommen! Und dann bitten und flehen sie so keck, daß ihnen der Herr ohne Verzug den Rang von Engeln verleiht. Und darum‹, sagte der Heilige, ›freue auch du dich, Weib, und weine nicht; denn auch dein Kindlein ist jetzt beim Herrn in der Schar der Engel.‹ So sprach in alten Zeiten der Heilige zu der weinenden Frau. Er war ein großer Heiliger und konnte unmöglich die Unwahrheit sagen. Daher wisse auch du, Mutter, daß dein Kindlein jetzt froh und heiter vor Gottes Thron steht und für dich betet. Und darum weine nicht, sondern freue dich!«
Das Weib hörte ihn an mit gesenktem Kopf, die eine Wange in die Hand gestützt. Sie seufzte tief:
»Genauso hat mich Nikituschka getröstet; Wort für Wort wie du hat er gesagt: ›Du
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