Die Brüder Löwenherz
»Wir müssen hier weg.« So leise und rasch, wie wir nur konnten, krochen wir vom Abgrund fort, und sobald wir außer Sicht waren, rannten wir. Wir rannten den ganzen Weg zurück und machten erst halt, als wir bei Grim und Fjalar angelangt waren. Wir hockten uns stumm neben unsere Pferde in die Felsenkluft, denn nun wußten wir nicht weiter. Jonathan war so traurig, und ich konnte ihn nicht trösten, ich konnte nur mit ihm traurig sein. Ich verstand seinen Kummer. Er hatte geglaubt, Orwar helfen zu können, und jetzt gab es keine Hilfe mehr.
»Orwar, mein Freund, dich habe ich nie kennengelernt«, sagte er. »Und heute abend mußt du sterben, und was soll dann aus Nangijalas grünen Tälern werden?«
Wir aßen ein Stück Brot, das wir mit Grim und Fjalar teilten. Ich wollte auch gern ein paar Schluck von der Ziegenmilch trinken, die wir aufgespart hatten.
»Noch nicht, Krümel«, sagte Jonathan. »Heute abend, wenn es dunkel ist, kriegst du alles bis auf den letzten Tropfen. Aber nicht früher.«
Eine ganze Weile saß er dort stumm und verzagt, doch schließlich sagte er: »Es ist, als suche man im Heuhaufen nach einer Stecknadel, das weiß ich. Aber versuchen müssen wir es trotzdem.«
»Versuchen? Was denn?« fragte ich.
»Ausfindig machen, wo Katla rausgekommen ist«, sagte er. Er glaubte freilich selber nicht daran, das merkte ich. »Ja, wenn wir ein Jahr Zeit dafür hätten«, sagte er.
»Dann vielleicht! Wir haben aber nur einen Tag.«
Gerade als er das sagte, geschah etwas: In der engen Spalte, in der wir hockten, wuchs an der Felswand ein Gebüsch, und aus diesem Gebüsch kam unversehens ein verängstigter Fuchs hervorgeschossen. Er flitzte an uns vorbei und war fast im selben Augenblick verschwunden.
»Wo ist dieser Fuchs bloß hergekommen?« rief Jonathan. »Das muß ich herausfinden!«
Er kroch in das Gestrüpp, und ich wartete. Er blieb so lange fort und verhielt sich so still, daß ich schließlich unruhig wurde.
»Wo bist du, Jonathan?« schrie ich.
Und darauf bekam ich wahrlich eine Antwort! Seine Stimme klang ganz aufgeregt.
»Weißt du, woher der Fuchs kam?« rief Jonathan. »Aus dem Berg! Begreif doch, Krümel, aus dem Katlaberg! Dort drinnen ist eine große Grotte I« Vielleicht war alles schon vorherbestimmt, seit der Urzeit der Märchen und Sagen? Vielleicht wurde Jonathan schon damals um des Heckenrosentals willen zu Orwars Retter bestimmt? Vielleicht gab es unsichtbare Märchenwesen, die, ohne daß wir es ahnten, unsere Schritte lenkten? Wie sonst hätte Jonathan gerade dort, wo wir unsere Pferde abgestellt hatten, einen Zugang zur Katlahöhle finden können? Es war rätselhaft genauso rätselhaft wie es gewesen war, daß ich bei all den vielen Häusern im Heckenrosental gerade auf dem Matthishof gelandet war und nicht woanders. Katlas Ausgang aus der Katlahöhle mußte es sein, den Jonathan gefunden hatte, anders konnte es nicht sein! Es war ein Loch, das geradewegs durch die Felswand führte. Und dieses Loch war nicht groß. Gerade groß genug, daß sich ein ausgehungertes Drachenweibchen hindurchzwängen konnte, als es nach Tausenden von Jahren erwachte und seinen gewohnten Ausgang durch ein Bronzetor versperrt fand, so erklärte es mir Jonathan. Und dieses Loch war auch groß genug für uns! Ich starrte in den finsteren Schlund. Wie viele schlafende Drachen mochte es dort geben? Ungeheuer, die aufwachten, wenn man da unten versehentlich auf sie trat? Das alles schoß mir durch den Kopf.
Da spürte ich Jonathans Arm auf meiner Schulter. »Krümel«, sagte er, »ich weiß nicht, was dort im Dunkeln lauert, aber hinein will ich.«
»Ich auch«, sagte ich, und meine Stimme zitterte wohl dabei. Jonathan strich mir mit dem Zeigefinger über die Wange, wie er es manchmal tat.
»Bist du sicher, daß du nicht lieber bei den Pferden warten willst?«
»Habe ich nicht gesagt, daß ich mitkomme, wohin du auch gehst?« sagte ich.
»Doch, das hast du«, sagte Jonathan, und seine Stimme klang recht froh.
»Denn ich will bei dir sein«, fuhr ich fort, »auch wenn es in einem unterirdischen Höllenreich ist.«
Ein solches Höllenreich war die Katlahöhle. In dieses schwarze Loch hineinzukriechen, das war wie in einen bösen schwarzen Traum einzutauchen, aus dem es kein Erwachen mehr gab; es war, als komme man aus dem Sonnenschein in ewige Nacht.
Die ganze Katlahöhle muß ein altes ausgestorbenes Drachennest sein, seit Urzeiten von Bosheit verpestet, dachte ich. Hier sind wohl die
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