Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie
Kassam einen flüchtigen Blick hatte werfen können, bevor ihn Kano umgefahren hatte. Er hatte anschließend versucht, sich weiterer Bewohner der Stadt New Orleans zu bemächtigen, damit diese dem Wagen folgten, aber die meisten waren infolge des Unwetters derart von Panik erfasst, dass keine telepathische Verbindung zustande kam. In diesem Augenblick hatte Hanika mit ihrem unvorsichtigen Vorgehen die Karten neu gemischt. Er musste die Missgeburt in seine Hand
bekommen, bevor ihm die Verehrungswürdigen Mütter einen Strich durch die Rechnung machten. Es war eine Frage von Leben und Tod – nicht für ihn, wohl aber für die Menschheit.
TEIL DREI
MARIA
1
Portland, Maine
Die gläsernen Türen des Flughafens von Portland schließen sich hinter Special Agent Maria Parks. Sie stellt ihren Koffer auf den Boden und lässt den Blick über die nahezu leeren Parkplätze schweifen. Windböen treiben Plastiktüten vor sich her. Eine dünne Staubschicht bedeckt ihren alten Chevrolet-Pick-up mit Allradantrieb, den sie vor mehreren Tagen dort abgestellt hat. Sie drückt ihre Zigarette aus und macht sich auf, wobei sie sich in der Mitte der leeren Gänge hält. Visionen, die in sie einzudringen versuchen, weist sie entschlossen ab. Sie hat sich nicht eine Minute Schlaf gegönnt, seit brasilianische Polizeikräfte sie im letzten Augenblick von den Pforten des Todes zurückgerissen haben. Sie weiß genau, dass die Visionen nur darauf warten, dass sie einschläft. Nur einige Minuten Schlaf. Jetzt hat sie ihren Wagen erreicht. Ein ganzer Stapel von Reklamezetteln klemmt unter den Scheibenwischern: Wer bei Ricetta zwei Pizzen kauft, bekommt die dritte umsonst, wer für fünf Dollar die Minute eine überteuerte Nummer anruft, hat Anspruch auf zehn Minuten Wahrsagen. Auch finden sich Versprechen, einen Waschbrettbauch zu bekommen, ohne Sonne braun zu werden, nicht länger allein alt werden zu müssen... Die Zettel flattern im Wind davon. Maria steigt ein. Im Wagen, ihrer alten Kiste, in der sie schläft, isst und raucht, wenn sie monatelang von der Bildfläche verschwindet, riecht es nach Tabak und altem Leder.
Sie wirft einen Blick auf den Tacho. An die zweihunderttausend Kilometer hat sie auf den Spuren umherziehender kaltblütiger Mörder auf dem ganzen amerikanischen Kontinent zurückgelegt. Ganze Monate hat sie damit verbracht, Wüsten zu durchqueren. Dabei hat sie die Doors gehört, Pepsi light getrunken und geraucht wie ein Cowboy. Sie hat es aufgegeben, die am Straßenrand oder in verdreckten Motels verbrachten Nächte zu zählen, die Restaurants, in denen sie unaussprechlich schlechtes Chili gegessen und es mit lauwarmem Budweiser hinuntergespült hat. Ihr unstetes Leben auf der Jagd nach ihren Brüdern, den Mördern. In einem Winkel ihres Gehirns merkt sie, wie Daddy lächelt.
»Nur zu, Maria. Du kannst es doch gar nicht abwarten.«
Sie schaltet das Radio ein. KPCM, die Stimme Portlands. Sie erkennt ein altes Stück von Country Orenox. Ja, sie muss zugeben, sie kann es nicht abwarten, sich wieder aufzumachen, eine neue Fährte aufzuspüren und sich dann, die Haare vom glühenden Wind der Wüste gepeitscht, am Rand des Bryce Canyon oder des Monument Valley wiederzufinden.
»Nein, Maria, das ist nur die Vorspeise. Gib doch zu, du sehnst dich förmlich danach, auf einer einsamen Nebenstraße einen zu erwischen und umzunieten. Du fühlst den Drang zu töten, nichts weiter. Wer soll den Anfang machen? Eine alte Dame? Ein Handelsreisender? Nein, dafür ist es noch zu früh. Wer dann? Vielleicht ein dicker Schweinehund, der Frauen misshandelt oder es mit kleinen Kindern treibt? Alle Mörder erteilen sich als Erstes selbst die Absolution. Ja, Maria, wie wäre es damit, einen richtig fetten Schweinehund umzubringen?«
Sie stellt das Radio lauter. Auf die Orenox folgt eine Art Potpourri alter Rolling-Stones-Titel. Mick Jaggers Stimme
kommt verrauscht aus den Lautsprechern. Die Visionen drängen gegen sie an. Sie verlässt den Parkplatz und nimmt die vierspurige Straße nach Hattiesburg. Wie jedes Mal, wenn sie von einem Einsatz zurückkehrt, leidet sie unter Entzugserscheinungen. Sie spürt, wie die große Depression einsetzt. Richtungsschilder zeigen den Weg zur Interstate 95. Nach Auburn und Augusta geht es geradeaus. Genau nördlich liegt Purgatory im Kreis Kennebec, dann geht es nach links bis zur Einmündung von Chase Corner und Philips. Von dort aus rechts nach Salem und Hattiesburg. Dreihundert Kilometer in der
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