Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie
Mutter.«
Sie schließt die Augen, während die Obdachlosen unter wilden Schreien auf sie zustürmen. Fast haben sie Ilya erreicht, als Hanika spürt, wie sie in die Tiefe stürzt. Sie hat gerade noch Zeit, sie um Vergebung zu bitten, weil sie sie
nicht hat schützen können. Sie flüstert ihr noch rasch zu, dass sie sie liebt. Als sie den Aufprall wahrnimmt, fährt Hanika zusammen. Ilyas Licht ist erloschen.
Der anderen Aïkan, die sich einstweilen hatte retten können, bleibt keine Zeit, sich umzubringen. Hanika spürt, wie ihr die Dolche der Obdachlosen ins Fleisch fahren. Sie krümmt sich. Sie hält den Atem an. Eine Träne glänzt auf ihrem leeren Gesicht. Jetzt sind alle Aïkane tot. Niemand ist übrig, um die Macht der Verehrungswürdigen Mütter zu empfangen. Hanika hebt den Kopf. Ein kaum wahrnehmbares Signal von oberhalb des Pontchartrain-Sees hat ihre Aufmerksamkeit erregt. Es wandert so rasch, dass es ihr vorkommt, als fliege es. Das Kind, die unwahrscheinliche Person, der Debbie ihre Macht übertragen hat, sitzt hinten in dem von Kano gesteuerten Wagen. Das Mädchen heißt Holly. Sie fühlt sich elend, ist nicht bereit. Hanika seufzt.
»Guter Gott, Mutter Cole, warum habt Ihr das getan?« Einen Augenblick lang verfolgt Hanika das Signal, das sich nordwärts entfernt. Sie kennt Hollys Leibwächter. Es sind die besten. Sie weiß aber auch, dass sie sich nicht beliebig lange weit von dem großen Fluss entfernen dürfen. Das ist auch dem Erzfeind bewusst. Doch für den Augenblick ist das Wüten der Wasser sogar für ihn zu viel. Er steht im Begriff, die Verbindung zu dem Mädchen zu verlieren. Da die Fluten seine aus Obdachlosen bestehende Streitmacht stark vermindert haben, muss er sich zurückziehen.
Mit halb geschlossenen Augen schickt Hanika eine Schwingung in alle Richtungen aus. Sie teilt den Hütern der Flüsse mit, dass die Verehrungswürdige Mutter Cole nicht mehr lebt, den anderen Verehrungswürdigen Müttern ein ähnliches Schicksal droht und Gäas Macht Gefahr läuft zu erlöschen. Sie enthüllt ihnen, dass ein Teil der sieben Mächte irrtümlich auf eine Sterbliche übertragen
worden ist, die um jeden Preis beschützt werden muss, und fügt hinzu, dass jenes Kind die letzte Rettung für die Menschheit bedeutet. Die über den ganzen Planeten verteilten Hüter antworten ihr. Sie haben verstanden. Sie werden sogleich alle Heiligtümer schließen.
Als Hanika aus ihrer Trance zurückkehrt, merkt sie, dass der Erzfeind ihr Signal aufgefangen hat und festzustellen versucht, woher es gekommen ist. Eiseskälte bemächtigt sich ihrer. Sie gibt sich große Mühe, wach zu werden. Doch sie hat viel Kraft verloren. Eine Vision hüllt sie ein. Sie ist allein inmitten der Wüste. Ein Mann kommt auf sie zu. Noch sieht sie sein Gesicht nicht, weiß aber, dass er lächelt. Er ist wenige Schritte vor ihr stehen geblieben. Zu seinen Füßen kommen Dutzende von Schlangen aus dem Gebüsch. Aus seinem Mund dringt eine tiefe und wohlklingende Stimme: »Verehrungswürdige Mutter Hanika, welche Freude, Euch wiedergefunden zu haben. Wie unvorsichtig von Euch, die Botschaft auszusenden! Ihr habt verloren, seid also keine Spielverderberin und sagt mir, wo das Kind ist.«
Hanika versperrt ihren Geist vor ihm. Sie muss um jeden Preis wach werden, bevor der Erzfeind sieht, was sie gesehen hat. Sie spürt undeutlich, dass der Wagen am Straßenrand anhält. Ein Windstoß fährt ihr in die Haare. Der Fahrer schüttelt sie, ruft nach ihr. Mit aller Kraft klammert sich Hanika an diese Stimme, während die Schlangen sich um ihre Fußknöchel zu winden beginnen. Sie stößt tiefe Seufzer aus, als sie die ersten Bisse spürt. Schließlich öffnet sie die Augen. Der Fahrer wischt ihr das Blut vom Gesicht. Sie dreht den Innenspiegel zu sich und zittert bei ihrem eigenen Anblick: Wie die anderen Verehrungswürdigen Mütter aus Neeras Geschlecht sieht sie sich altern. Sie begreift, dass Holly zu ihrem Schutz auf den mächtigsten aller Hüter angewiesen ist, einen Mann, der seinem Schicksal
schon vor langer Zeit den Rücken gekehrt und vergessen hat, was er ist. Ob er will oder nicht, jetzt ist für ihn der Augenblick gekommen, sich daran zu erinnern.
Während der Wagen erneut anfährt, nimmt Hanika den Telefonhörer von der Armlehne.
»Treiben Sie Dr. Gordon Walls auf. Es ist dringend.«
12
Während er behaglich in seinem Privatjet sitzt, fährt sich Burgh Kassam mit dem Finger über die Nase und betrachtet einen Augenblick lang
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